CALLIGRAMME Buchhandlung

Rezensionen aus Medien

 

Lesenswerte Buchbesprechungen in Zeitungen:

 

Dzevahad Karahasan, Einübung ins Schweben (Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 25.1.2023)

Péter Nádas, Schauergeschichten (Hans-Ulrich Probst, Wochenzeitung, 12.1.2023)

Christoph Geiser, Werkausgabe (Philipp Theisohn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.2023)

 

Ältere Rezensionen ......

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Lilian Thuram, Das weisse Denken (Daniel Hackbarth und Franziska Meister, Die Wochenzeitung, 31.3.2022)

Seweryna Szmagleska, Die Unschuldigen in Nürnberg (Bernd Noack, Neue Zürcher Zeitung, 17.3.2022)

David Edmonds, Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie (Michael Krätke, Wochenzeitung, 10.2.2022)

David Graeber / David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit (Philippe Koch, Die Wochenzeitung, 27.1.2022)

Bora Ćosić, Operation Kaspar (Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 5.4.2022)

Jonathan Franzen (Christine Lötscher, Geschichte der Gegenwart, 7.11.2012)

Anne Carson (Casey Cep, The New Yorker, 1.11.2021)

Rebecca Solnit (Interview mit Helen Rosner, The New Yorker, 5.11.2021)

Marie NDiaye (Franziska Meister, Die Wochenzeitung, 4.11.2021)

Bruno Latour (Helmut Mayer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.12.2021)

Anna Lowenhaupt Tsing (Christine Lötscher, Geschichte der Gegenwart, 30.8.2020)

Kurt Marti (Thomas Ribi, NZZ, 27.8.2021)

Colson Whitehead (Franziska Meister, WOZ, 26.8.2021)

Claudio Landolt (Florian Keller, WOZ, 19.8.2021)

Oswald Egger (Paul Jandl, NZZ, 12.8.2021)

Mark Twain (Renate Wiggershaus, NZZ, 9.8.2021)

Aleksandar Tišma (Andreas Breitenstein, NZZ, 6.8.2021)

Vitomil Zupan: Menuett für Gitarre (Jörg Plath, NZZ, 12.5.2021)

Jamaica Kincaid (Theresa Hein, Republik, 5.4.2021)

Nastassja Martin: An das Wilde glauben (Marcel Hänggi, WOZ, 25.3.2021)

Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt (Andreas Breitenstein, NZZ, 15.3.2021)

 

Im Online-Magazin Republik ist im Januar 2022 ein interessanter Artikel von Marko Kovic mit dem Titel „Fake-News – jetzt auch in Ihrer Buchhandlung“ über die gesellschaftliche Rolle des Buchhandels erschienen. Kovic stellt mit Befremden fest, dass im Angebot vieler Buchhandlungen Bücher präsent sind, die falsche Behauptungen, Verschwörungstheorien und Hassbotschaften enthalten, was dem Autor zufolge für die Demokratie problematisch ist. Freilich liegen fragwürdige Titel wie «Corona unmasked» oder «Bevölkerungsaustausch in Europa» nicht auf den Tischen der Buchhandlungen, sondern stecken in den Webshops, die auf riesigen zentralen Datenbanken basieren und nicht «händisch» gefiltert werden können. Kovic beleuchtet kritisch die «Amazonisierung» des Buchhandels, der zu einem immer grösseren Teil anonym übers Internet abläuft.

 

Calligrammes Favoriten

 

 

Dezember 2023

 

 

Artem Tschech: Nullpunkt

(Arco Verlag, Wuppertal 2022 – aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck)

Nullpunkt

Aus den zahlreichen in diesem Jahr erschienen Büchern über den Krieg in der Ukraine ragt „Nullpunkt“ von Artem Tschech in besonderer Art und Weise hervor: Der 1985 in der Zentralukraine geborene Autor schreibt mit scharfer Beobachtungsgabe und in einer eigenwilligen Sprache kurze, essayistische Notizen über seine Erlebnisse als Soldat im Donbass 2015. Er ruft uns damit in Erinnerung, dass der Krieg in der Ukraine nicht erst im Februar 2022, sondern schon viel früher begonnen hat.

 

In den 63 knappen Kapiteln, einige davon mit ausdrucksstarken Bildern des amerikanischen Dokumentarfotografen Brendan Hoffman illustriert, folgen wir einem jungen Zivilisten aus Kiew, der seine Sneakers gegen Kampfstiefel tauscht.

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Nach der Ausbildung wird der Soldat Tschech an die Grenze zur Krim geschickt, anschliessend in die Ostukraine, in die Nähe von Cherson. Hier trifft der studierte Soziologe mit Menschen verschiedenster Herkunft zusammen, mit Bauern, Grubenarbeitern, Intellektuellen, Maidan-Teilnehmern. Der Krieg wird zu einer identitätsstiftenden Erfahrung von Zugehörigkeit über die Schichten hinweg. Dennoch bleibt der Blick des Erzählers skeptisch und verweigert sich jeglichem Nationalismus.

 

Tschech tippte während seiner Stationierung Skizzen, Zitate und Betrachtungen in sein Handy, sortierte Erinnerungen und überarbeitete Episoden am Laptop. Dies trug ihm gelegentlich skeptische Kommentare seiner Kameraden ein. „Schreibst Du über mich?“, fragte einer seiner Weggefährten. Zunächst dachte Tschech daran, auf der Basis seiner Beobachtungen einen Roman zu verfassen. Mit der Zeit erkannte er, dass die fragmentierte Form in kurzen Aufzeichnungen nicht nur praktikabler war, sondern auch den Kriegserfahrungen der Menschen besser entsprach. Aus den Notizen ist ein Prosaband entstanden mit literarischen Miniaturen in bald ernstem, bald heiterem Tonfall.

 

„Nullpunkt“ handelt nicht von blutigen Kämpfen in Schützengräben, sondern von Alltagsszenen in der Armee und vom inneren Erleben des Erzählers, für den der Krieg bis zu seiner Einberufung in weiter Ferne lag. So schildert er seine zunehmende Identifizierung mit der Armee und seine erschreckende Einsicht, dass, „was sonst im Leben, in Zivil, schockieren und traumatisieren würde“, mit der Zeit einer unheilvollen Gleichgültigkeit weicht. In diesem Spannungsfeld zwischen Identifikation und intellektueller Distanzierung ist „Nullpunkt“ angelegt.

 

Der Nullpunkt bezeichnet die Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den separatistischen Kämpfern in der Ostukraine. Bei Tschech ist er vor allem eine Metapher für die Kriegserfahrung des Menschen, dessen Leben nie mehr so sein wird, wie es einmal war. Dies zeigt jene Szene besonders eindringlich, als der Erzähler auf Fronturlaub nach drei Monaten seine Frau wiedersieht. „Sie scheint glücklich zu sein, obwohl ich mich bemühe, Ähnliches zu empfinden, erstarre ich bei jeder Kleinigkeit.“ Diese Stelle beweist, wie schonungslos und zerstörerisch der Krieg ins Private der Menschen eindringt.

 

– Sandra Valisa

 

 

 

 

Eleonore Frey: Cristina

(Engeler Verlag, Schupfart 2022)

Cristina

Eine junge Frau namens Cristina, in bescheidenen Verhältnissen in Lissabon aufgewachsen, verliebt sich mit fünfzehn Jahren in einen Matrosen, wird schwanger und sieht sich, als er mit einem Schiff nach New York gefahren und nicht zurückgekehrt ist, allein. Ihre verständnisund lieblose Mutter schafft sie zu einer Tante aufs Land und lässt ihr nach der Geburt des Kindes ein Schlafmittel verabreichen, damit sie nicht mitbekommt, dass das Baby weggegeben wird. Cristina sucht ihr Kind, ohne es je zu finden. Sie lebt ein Leben als „kinderlose Mutter“.

 

Das wäre Stoff für ein tränenträchtiges Drama oder eine sozialkritische Reportage über die Enge des katholischen Milieus. Die Zürcher Autorin Eleonore Frey macht aus dieser Geschichte über Missbrauch und Traumatisierung etwas ganz anderes.

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In einer Zeit, wo das autobiografische Erzählen von Annie Ernaux und Édouard Louis bis zu Karl Ove Knausgård und Tove Ditlevsen hoch im Kurs steht, vollbringt sie ein kleines Kunstwerk der Empathie und Imagination. Das tut sie klug und fein, indem sie jede Illusion von direkter Betroffenheit und dokumentarischem „Realismus“ vermeidet. Cristina wächst uns ans Herz, auf jeden Fall, aber ihre Lebensgeschichte ist gespickt mit werweissenden Fragen und möglichen Fortsetzungen, und vor allem umgibt sie sie mit einer Rahmenerzählung, die uns zunächst fruchtbar verwirrt. Erzählt wird uns das Frauenschicksal nämlich von Manoel, einem Dichter, dem Cristina nach langem Alleinsein begegnet und der ihr Gefährte wird.

 

Der erzähltechnische Kunstgriff hat es in sich. Eleonore Frey erzählt uns, wie eine junge Frau mit dem Bruch in ihrem Leben zurechtkommt. Das zentrale Thema des Buches ist die Frage, wie Menschen mit Kindern und Kindheit umgehen: das Kind Cristina, dem die Mutter den Sohn raubt; die Neugeborenen in der Hebammenschule, die Cristina nach dem schlimmen Ereignis absolviert; zwei Buben, deren brutales Spiel Cristina zum Eingreifen bewegt. Gleichzeitig lesen wir gebannt, wie die junge Frau stark und stärker wird, indem sie sich selbst und dann einem anderen ihre Geschichte erzählt, der sie ihr wieder „zurückerzählt“. So wird Freys Erzählung zu einer Reflexion über das Erzählen. Beim Lesen erfahren wir, wie die Schönheit der Beschreibung – einer Meeresküste, eines Hühnerhofs, eines Quittenbaums im Hof… – Kraft erschafft. Wir verstehen aber auch, dass die Möglichkeit, sein eigenes Leben oder den Lebensweg einer Figur zu öffnen und zu entwickeln, immer wieder durch einen Rahmen eingeschränkt, durch bereits getroffene Entscheidungen determiniert wird. Nicht jede Beschränkung, so lernt Cristina, muss traumatisierend sein. Im Saal der Neugeborenen denkt sie über die Schicksale der Babys nach: „Mit jedem Schritt, der dem Kind die Richtung gab auf etwas zu, von etwas weg wurde weiter gewoben an einem Netz, das dem Kind zugleich Sicherheit und Verstrickung war; das ihm Wege vorzeichnete und damit auch immer ausschloss, was zwischen die Maschen gefallen, ihm entgangen war in seinen von einer Entscheidung zur andern führenden Entdeckungen…“

 

Genau gleich ist es beim Erzählen. Im Gespräch mit ihrem Dichtergefährten Manoel bemerkt Cristina einmal, es sei schade, dass alle Geschichten einen Rahmen hätten: „So können sie nicht wuchern, nicht sich auswachsen…“ Manoel ist sich nicht sicher, ob das wünschbar wäre. Denn das ist die Freiheit des Lebens wie des Erzählens: dass der Rahmen Sicherheit gibt, ohne einzuengen.

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pyms Abenteuer

(dtv, München 2022 – neu übersetzt von Andreas Nohl)

Arthur Gordon Pym

Natürlich, man kann Edgar Allan Poe (1809 in Boston geboren, 1849 in Baltimore gestorben) mögen oder auch nicht. Was man ihm jedoch rein faktisch attestieren muss, zumindest seit Charles Baudelaire ihn um 1850 für Europa und damit dann auch wieder für die Welt entdeckt hat, ist, dass Poe den Rang eines Diamanten in der Krone literarischer Schöpfungen innehat: Er hat, ganz ohne Umschweife konstatiert, sich als Creator Spiritus der modernen Detektivgeschichte erwiesen, das Genre der Gothic Novel mit seinen Erzählungen zur Vollendung gebracht, mit seinem (vergleichsweise eher kleinen) essayistischen Werk so manchen Impetus für die Linguistik und die Philosophie geliefert und mit seiner Lyrik die Basis für den im 19. Jahrhundert aufkommenden Symbolismus gelegt.

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Man kommt nicht umhin, Poe als wegweisend für die gesamte moderne Literatur zu betrachten, noch heute ist er Referenz und Ideengeber im panglobalen Kulturbetrieb. Nun findet sich in Poes ganzem OEuvre ein einziger Roman, 1836 von ihm unter dem verheissungsvollen Titel „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ verfasst. Für die amerikanische Öffentlichkeit gab es den Text damals zuerst in Sequenzen aufgeteilt im Southern Literary Messenger zu lesen, bevor Harper & Brothers ihn im Jahre 1838 als Buch verlegten. Seither sind zu verschiedenen Zeiten diverse Übersetzungen in mehreren Dutzend Sprachen erschienen, so dann auch 2022 diese hier besprochene von Andreas Nohl, der Poes erhabenen Thesaurus sowie stringente Sprachlogik in ein wunderbar flüssig zu lesendes, süffig zu konsumierendes Deutsch überträgt.

 

Im Vorwort des Romans vernimmt man, dass ein gewisser Arthur Gordon Pym vor seinem nahenden Tod seine Erlebnisse von einem gewissen Herrn Poe für die Nachwelt niedergeschrieben haben möchte; Erlebnisse, die zu Beginn einer recht wilden Abenteuergeschichte zur See gleichen, in der sich Pym mehrfach beweisen muss, um als zuerst blinder, dann doch offen wahrgenommener Passagier des von Nantucket auslaufenden Walfängers „Grampus“ unter widrigsten Umständen zu überleben – Meuterei, Kannibalismus und die Sichtung eines (wortwörtlichen) Totenschiffs inklusive. Mit fortschreitender Geschichte vernimmt man dann Poes meisterliches Spiel auf der Klaviatur des Grauens mit zunehmender Intensität, als Pym auf verschlungenen Meerespfaden durch die Eisbarriere der zu jener Zeit noch unerforschten Antarktis reist und in Gefilden landet, die an obskuren Regionen, meteorologischen Sonderlichkeiten und fremdartigen Kulturen nicht arm sind. Fast scheint es so, als sei unser Protagonist in eine alternierte Realität eingetreten, ein surreales Paradoxon in der Zeit, um dort, im Ascheregen und wie auf schillerndem Ichor treibend, sein Schicksal erfüllt zu sehen. Ob es sich hierbei nun um Seemannsgarn, ein Phantasma, eine grossangelegte Allegorie oder um einen quasi faktisch fabulierten Reisebericht der besonderen Art handelt, ist der geneigten Leserin, dem Leser selbst überlassen. So oder so lässt „Arthur Gordon Pyms Abenteuer“ durch seine schöpferische Genialität, seinen textuellen Wahnwitz, seine sprachliche Kompetenz sowie das Spiel zwischen Groteske, Schwarzhumoreske und konstruierter Faktizität keine literarischen Wünsche offen; selbst Herman Melville zollte in seinem „Moby Dick“ (auch wenn er den Roman Nathaniel Hawthorne widmete) Poes Pym Respekt, Jules Verne verneigte sich in „Die Eissphinx“ vor Poes Geschichte, während H.P. Lovecraft in „Die Berge des Wahnsinns“ gewisse Aspekte davon beinahe 1:1 übernahm.

 

Es gilt also, sich den erwähnten Herren anzuschliessen und Edgar Allan Poe – als diesen schwarzglänzenden Solitär der Weltliteratur, der er ist – für sich (neu) zu entdecken!

 

– Sandro Schäppi

 

 

 

 

Hannah Arendt / Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968

(Piper, München 1996, 2013)

Bluecher_Arendt

Gerade erfreut sich das Genre „Briefwechsel von Liebespaaren“ grosser Beliebtheit. Unerachtet des Umstandes, dass es eine Untergattung von „Sachbuch“ ist (so will es wenigstens die SPIEGEL-Bestsellerliste), trägt es sogar dazu bei, dass die Literaturgeschichte umgeschrieben wird. Wer nach dem epochalen Frisch-Bachmann-Drama noch nicht genug hat oder sich lieber durch grössere Zeiträume liest, sollte es unbedingt einmal mit der Korrespondenz zwischen Hannah Arendt und ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher versuchen, die in den neunziger Jahren von Arendts Assistentin Lotte Köhler herausgegeben wurde.

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Arendt und Blücher lernten sich 1936 im Pariser Exil kennen, wurden durch die Kriegswirren vorübergehend getrennt und flohen 1941 über Lissabon nach New York, wo sie sich mit Jobs in verschiedenen Institutionen durchschlugen und schliesslich Philosophie und Politische Theorie an verschiedenen Hochschulen lehrten. Arendt, die bei Heidegger und Jaspers studiert hatte, schuf sich spätestens 1951 mit ihrem Buch über die Ursprünge des Totalitarismus einen Namen; der Ex-Marxist Blücher war Autodidakt und hatte nur Abendvorlesungen besucht, dozierte aber mit leidenschaftlichem Engagement über deutsche Militärgeschichte, Philosophie und moderne Kunst.

 

Eine dauerhafte Rückkehr nach Europa war für das Paar, das 1951/1952 die US-Staatsbürgerschaft erhielt, undenkbar: Nach ihrem ersten Flug („…unbeschreiblich herrlich. Man ist mitten im Himmel…“) schreibt Arendt im Dezember 1949 aus Bonn: „Weisst du eigentlich, wie recht Du hattest, nie wieder zurück zu wollen? Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist. Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit.“

 

Dem Briefwechsel kommt zugute, dass Arendt nach dem Krieg mehrere Reisen nach Europa und Israel (das sie fast immer „Palästina“ nennt) allein unternimmt, während Blücher im sommerlichen New York schwitzt und sich aus Sparsamkeit keine Air Condition leistet. Stups (er) und Schnupper (sie) vermissen einander sichtlich, werden unruhig, wenn Briefe ausbleiben oder verloren gehen, aber die Liebeserklärungen sind wohldosiert, so dass man sich beim Lesen nicht allzu sehr als Voyeur schämen muss. Umso aufschlussreicher und vergnüglicher die vielen netten und weniger netten Berichte der beiden Lästerzungen über die Nachkriegswelt und die Mit-Intellektuellen. Arendt besucht Karl Jaspers und ihren ehemaligen Liebhaber Heidegger, dessen Frau ihr 25 Jahre zu spät eine Szene macht: „Die Frau, fürchte ich, wird so lange ich lebe, bereit sein, alle Juden zu ersäufen.“ Aus Paris schreibt sie: „Camus hat gerade angeläutet, und Raymond Aron und Jean Wahl sehe ich nächste Woche. (…) Sartre et al. will ich nicht sehen; das ist sinnlos.“

 

Der Briefwechsel enthält ein Panorama, ein Mosaik jener Zeit, berührt den labilen Status von Berlin, den Ungarn-Aufstand, Kennedy und die Kubakrise und natürlich den Eichmann-Prozess in Jerusalem („Gespenst in der Glaskiste“). Immer wieder sind kleine Glanzstücke zu lesen, etwa Blüchers komplette Philosophiegeschichte auf eineinhalb Seiten („Marx wollte den Seinshimmel einfach über die Erde legen (…) Kierkegaard baute aus den eingestürzten Blöcken eine enge Höhle, in die er sein moralisches Ich zusammen mit einer monströsen Art von Gott sperrte.“). Oder Arendts landschaftsmalerischer Bericht von ihrer Zugreise über die Rocky Mountains nach Berkeley, wo sie eine Gastprofessur versah: „Man fährt tagelang auf der Höhe durch Schneewüsten, über die der Wind bläst und die Sonne aufgeht, und die Sterne sind auch da. Und wenn die Sonne aufgeht, weiss man: Da erschuf er Morgenröte.“

 

Blätternd und lesend werden wir mit den beiden immer vertrauter und freuen uns, wie sich da zwei helle, wache Köpfe „in alter, nicht rostender Liebe“ die Welt erzählen und bedenken. So dürfen wir uns freuen auf die Doppelbiografie von Barbara von Bechtolsheim, die der Insel Verlag für Mai 2023 ankündigt. „Wir haben es nicht gut gemacht“, lautet bekanntlich der Titel des Bestsellerbandes mit den Briefen von Frisch und Bachmann. In einem Basler Brief Hannah Arendts – geschrieben im Oktober 1956, als Blücher offenbar gerade ihren 50. Geburtstag vergessen hat – findet sich ein schönes, lakonisches Echo avant la lettre darauf: „Ja, wir haben es eigentlich recht gut gemacht so weit, und es ist ja wohl anzunehmen, dass wir es weiter halbwegs recht machen werden.“

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

September 2022

 

 

Rachel Cusk: Coventry – Essays

(Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022)

Coventry

Wie zum Teufel sind wir in dieses Auto gelangt, das langsam auf einer englischen Küstenstrasse dahinrollt und immer wieder einmal überholt, nur um dem nächsten Schleicher aufzusitzen? Ein Gedankenspaziergang sei der Essay, heisst es bekanntlich; bei der englischen Autorin Rachel Cusk mutiert er zur Gedankenautofahrt. Schon im ersten Abschnitt beschreibt sie das Fahren in ländlicher Gegend und charakterisiert dabei im Grunde ihr eigenes Schreiben: „Die Strassen haben die Eigenart, abzuschweifen und nur selten auf direktem Weg irgendwo hinzuführen. Sie durchziehen die flachen Felder wie Adern. Was vor einem liegt, ist schwer erkennbar, und weil es kaum Erhöhungen gibt, kann man sich leicht verirren.“

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Mit niemandem möchte man sich lieber verirren als mit Ms Cusk, denn keine legt raffinierter Fäden durchs Dickicht und greift sie auf, wenn wir sie längst nicht mehr erkennen können. Wie eine Situationistin entführt sie uns auf ihre dérives, kreiert Wiederholungen, Auslassungen, Schnörkel und Spiralen, Luftlöcher und Vergleiche, die uns leer schlucken lassen: „Es ist, als wäre ich von Geburt an in einem Steinblock eingeschlossen gewesen, und meinen Körper daraus zu befreien, war ebenso eine Notwendigkeit wie eine Pflicht.“ Dem eigenen Scheitern stellt sie scheinbar demütig den Erfolg einer Freundin entgegen, deren Familie „gross und so stabil wie ein Ozeandampfer“ ist. Nur blöd, dass wir gar nicht anders können, als an die Titanic zu denken…

 

Im Essay „Autofahren als Metapher“ (eine augenzwinkernde Hommage an Susan Sontag) geht es um vieles, was uns Heutige umtreibt: das Zusammenleben in der Masse, das Ellbögeln, die Dialektik der Autonomie, das angestrengte Leben in der Aufmerksamkeitsökonomie. Cusk lullt uns ein mit Beobachtungen, Bekenntnissen und sehr vernünftigen Betrachtungen, nur um uns zum Schluss vor Schreck japsend am Strassenrand allein zu lassen.

 

Das Einrichten von Wohnungen, Unhöflichkeit und die Ablösung von „Löwen an Leinen“ (Teenager-Kindern) sind weitere Themen, denn der Alltag ist Rachel Cusks Element – das ist auch in ihren elf Romanen und drei Memoirs (über Trennung und Mutterschaft) nicht anders. Bei allem Schweifen und Driften ist aber die Essaysammlung „Coventry“ ein Meisterstück der Verdichtung. Warum Coventry? Jemanden nach Coventry zu schicken, bedeutet in England, mit einer nahestehenden Person nicht mehr zu reden. In Rachel Cusks Fall sind es ihre Eltern, die sie immer wieder einmal auf diese Weise für irgendein Fehlverhalten abstrafen. Die englische Stadt Coventry ist bekannt dafür, dass sie im Zweiten Weltkrieg schwer bombardiert wurde. Mit ein paar Federstrichen öffnet Cusk jahrzehntetiefe Abgründe, doch zum Glück ist sie im Abgrund zuhause. Und so fühlt sie sich auch im Schweigen sicher und geborgen: „Immerhin ist Coventry der Ort, an dem das Schlimmste bereits eingetreten ist.“

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

James Joyce: Anna Livia Plurabelle

(Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1970)

Plurabelle

Man könnte sich im Jahr 2022 ohne Umstände am nun 100-jährigen „Ulysses“ von James Joyce, diesem 1882 in Dublin aufgegangenen und 1941 in Zürich erloschenen, extravaganten Leitstern der modernen Literatur, gütlich tun, in Harold Blooms Bewusstseinsstrom eintauchen und als assoziativer Geist durch die Hauptstadt der irischen Republik schweben. Man könnte aber auch mit Anna Livia Plurabelle in das kryptische Reich der sprachlichen Transformation abtauchen und versuchen, diesem semantisch wahrscheinlich dichtesten aller Texte auf die Schliche zu kommen, handelt es sich doch hierbei um das Schlusskapitel des ersten Buches von „Finnegans Wake“, welches – wahrscheinlich zu Recht – als das unübersetzbarste aller literarischen Werke gilt.

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Gemäss dem Autor primär gestützt auf die Bibel sowie Giambattista Vicos „Scienza nuova“, vereint „Finnegans Wake“ in sich so ziemlich alles, was der Mensch an philosophischer, mythologischer, religiöser oder historiographischer Kulturgeschichte aus dem Hut respektive dem Geist gezaubert hat; die Crux hierbei liegt in Joyce‘ Verarbeitung all dieser referentiellen Teile zu einem Textkörper, der ob so viel sprachlich implizierter Metaebenen förmlich jeden denkbaren Rahmen sprengt und das Lesen selbst zu einem Abenteuer der minutiösen Dechiffrierung macht, vom Makrokosmos zum Mikrokosmos hangelt man sich den Zeichen entlang. Zeichen, die phonetisch verstanden werden können; Zeichen, die einer Numerologie folgen; Zeichen, die sich anderer Grundlagentexte bedienen oder entlehnen; lautmalerische Verschiebungen, Syntax-Brüche, das Wechseln in nichtenglische Sprachen... die Aufnahme von „Finnegans Wake“ martert und befreit zugleich – und so auch im Kleinen der Auszug „Anna Livia Plurabelle“.

 

Der Konsens darüber, wer oder was Anna Livia Plurabelle ist, besteht durchaus darin, dass es sich bei ihr um die personifizierte Liffey, also den durch Dublin fliessenden Fluss, handelt und sie in dieser Funktion sowohl ein gewichtiges Element der Schöpfung als auch durch die Bewegung des Fliessens den Lauf der Zeit darstellt – sie ist also Ewigkeit und Vergänglichkeit zugleich, das All-Eine und dennoch stetig ein Nichts . Zugleich ist sie, etwas weltlicher nun, die Ehefrau von Humphrey Chimpden Earwicker (einem der Protagonisten des gesamten „Finnegans Wake“) und die Mutter von Shem, Shaun sowie Issy und in dieser Gestalt dann eben Mensch, wenn auch versehen mit metaphysischen Attributen, die sie in ihrer Form stets amorph, metamorph erscheinen lassen. Anna Livia fliesst und geht und geht und fliesst und sammelt an ihren Rändern Unrat, Geschichten, Menschenwerk; sie hört zwei alte Wäscherinnen über ihren Ehemann sprechen, dessen „Vergehen“ als Gerücht in der Stadt die Runde macht; sie sinniert über ihre Kinder, denkt also über Ursprünge nach, erinnert sich auch an Finn, einen identitätsstiftenden Helden der irisch-keltischen Mythologie (von dem auch sie selbst irgendwie abstammt) und akkumuliert während ihrer Vorwärtsbewegung Flussnamen (unter anderem die Limmat, die Sihl oder die Reuss) und Meeresströmungen, nur um sich am Ende selbst an den Gestaden der Irischen See im grossen Wasser aufzulösen, wieder von vorne zu beginnen, in einem neuen Kreislauf wieder aufzuerstehen. Anna Livia Plurabelle zu folgen, heisst, im Sein zu wandern, die Schöpfung oder deren Dekonstruktion zu erfahren und dabei trotzdem in der Sprache, der Geschichte, der Geographie verankert zu sein. Ein ausserordentliches Szenario, das sich zum Beispiel so abbildet:

„Shyr she’s nearly as badher as him herself! Who? Anna Livia? Ay, Anna Livia. Do you know she was calling bakvandets sals from all around, nyumba noo, chumba choo, to go in till him, her erring cheef, and tickle the pontiff aisy-oisy? She was? Gota pot! Yssel that the limmat? As El Negro winced when he wonced in La Plate.”

 

In der schön gebundenen, 1970 erschienenen Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp finden sich neben dem englischen Original von Joyce kongeniale „Übersetzungen“ von Wolfgang Hildesheimer und Hans Wollschläger in die deutsche Sprache, eine Teilübersetzung ins Französische von Samuel Beckett sowie eine von C.K. Ogden in ein Basic English runden den ansonsten mit nicht wenigen Annotationen gefüllten Band ab.

 

– Sandro Schäppi

 

 

 

 

François Jullien: Ein zweites Leben

(Passagen Verlag, Wien 2020)

Zweites Leben

Dieses feine kleine Buch war in den letzten Wochen und Monaten der heimliche Star in der Philosophie-Abteilung von Calligramme. Vor allem ältere Herren (wie der Schreibende) scheinen daraus Inspiration, Gedankenschärfe und Genuss zu schöpfen, was nicht heisst, dass das Buch nicht einen viel weiteren LeserInnenkreis interessieren könnte. Ohne so simple Affichen explizit zu benennen, geht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien (Jahrgang 1951) von einer Erfahrung aus, die man mit dem verknüpfen mag, was einst „Midlife- Crisis“ hiess und heute vielleicht eher eine Dreiviertellebenskrise geworden ist. Oder vielmehr von einer Frage, einem, wie er sagt, „frühmorgendlichen Gedanken“: „Wird es mir gelingen, mich von meinem früheren Leben – von meinem in seiner Welt festgefahrenen Leben – zu lösen, um einen neuen Tag zu beginnen?“

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Mit dem legendären Videospiel „Second Life“ (2003) hat Julliens Gedankengang ebenso wenig zu schaffen wie mit christlichen Jenseitsvorstellungen oder esoterischen Heilsrezepten. Sein Konzept eines zweiten Lebens ist weder Ein- noch Ausbruch, niemand geht eben mal schnell Zigaretten holen oder eröffnet mit einer jungen Geliebten eine Tauchschule auf Cozumel. Viel eher werden Strategien der Selbstsorge erprobt, in Seelenverwandtschaft mit Pierre Hadot und Michel Foucault. Für gängige „Weisheitsbanalitäten“ hat Jullien wenig übrig: Wenn mit Weisheit Mässigung und „Sich-Fügen ins Unvermeidliche“ gemeint sind, dann ist sie in seinen Augen nichts weiter als ein „Schrumpfzustand des Denkens“.

 

„Der Mensch wird frei geboren“, schrieb einst Rousseau, doch bei Jullien ist die Freiheit ein „sekundärer Erwerb“, ein Resultat – etwas, was sich erst mit der Zeit ergibt, „weil sich in dem Blick, den man aufs Leben richtet, allmählich etwas Verstand abgelagert hat…“. Interessant sind die Bilder und Topographien, mit denen Jullien das „zweite Leben“ charakterisiert: Da wird nicht umgewälzt und über den Haufen geworfen, sondern geklärt und freigelegt, es ereignen sich „unterirdische Verschiebungen“, „Häutungen“ und die „Rückfaltung auf sich selbst“. Zwar wirft der Gelehrte Blicke auf die griechische Philosophie, auf die chinesischen Traditionen, die er so gut kennt, oder auf Kierkegaard, dessen opus magnum „Gjentagelsen“ er nicht als „Wiederholung“, sondern als „Wiederaufnahme“ übersetzt wissen will. Doch das Buch kommt ohne einzige Fussnote und ohne protzigen Literaturapparat aus – es ist anspruchsvoll, weil dicht und konzentriert, aber es liest sich leicht und wunderbar klar.

 

Werden wir konkreter: Es geht nicht gezwungenermassen ums Alter, sondern ums Altern, will heissen, um das Phänomen, dass „der Geist seine Vitalität behauptet und sogar entfaltet, während die physische Kraft bereits schwächer wird“. Das Prospektive weicht dem Retrospektiven – vorwärtszukommen, besteht darin, immer wieder neu zu beginnen. Es ist Zeit, das Zweckdenken hinter sich zu lassen und Ideologien nicht zu kritisieren, sondern abzubauen. Erfahrung hängt, so lernen wir, eng mit Gefahr (übrigens auch mit Piraten) zusammen, und Probleme sind nicht in erster Linie dazu da, gelöst zu werden, weil nämlich „das, wogegen unser Begehren ankämpft, worüber es siegen will, auch die Bedingung unseres Begehrens ist“.

 

Ich entschuldige mich für die vielen Zitate; dabei wäre noch viel mehr zu zitieren. Was sind Zitate anderes als ein zweites Sagen, ein zweites Lesen dieses Buches, dessen Autor auch vom „Wiederlesen“ („Madame Bovary“) viel zu erzählen hat. Und weil es nicht genug ist, denkt man sich selber weitere Kapitel aus, über die zweite Reise, die zweite Ausbildung, den zweiten Beruf. Das Glanzstück des Bandes ist das Kapitel über die „zweite Liebe“ (die keinen Partnerwechsel voraussetzt). Die erste Liebe „schnaubt und schüttelt sich zunächst geradezu in ihrer Leichtigkeit“, die zweite hingegen hat „begriffen, dass sich hinter dem Feiern des Anderen einiges an Selbstrechtfertigung verborgen hat“. Sie ist keine „besänftigte, gedämpfte, gezähmte erste Liebe“, sondern ist „dazu bereit, bis zum Ende zu gehen, alles auf sich zu nehmen, alles zu riskieren (sie hat nichts mehr zu verlieren), um sich von all dieser Banalität und Fatalität zu lösen und sich aus solcherlei Fesseln zu befreien“.

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

Mai 2022

 

 

Tove Ditlevsen: Gesichter

(Aufbau Verlag, Berlin 2022 – aus dem Dänischen von Ursel Allenstein)

Gesichter

Lange galt die dänische Autorin Tove Ditlevsen (1917–1976) im deutschsprachigen Raum als Geheimtipp: Lediglich der 3. Band der „Kopenhagen-Trilogie“ war in den 80er-Jahren unter dem Titel „Sucht“ ins Deutsche übersetzt worden. Das schmale Taschenbuch aus der Reihe „edition suhrkamp“ war schon lange vergriffen, als letztes Jahr mit der neuen deutschen Übersetzung aller drei Bände („Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“) die Wiederentdeckung der Autorin gefeiert wurde.

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Ein Jahr später ist nun auch „Gesichter“ auf Deutsch zu lesen. Die ebenso fesselnde wie erschütternde Erzählung ist erstmals 1968 im dänischen Original erschienen und handelt von der psychischen Erkrankung einer preisgekrönten Kinderbuchautorin und Mutter von drei Kindern im Kopenhagen der 60er-Jahre. Anders als die Trilogie ist das schmale Buch nicht als autobiografischer Text angelegt.

Die Hauptfigur ist fiktiv, Parallelen zum Leben der Autorin erkennt man dennoch. Immer wieder streut Tove Ditlevsen Spuren in ihren Text ein, die auf ihre Biografie hinweisen – so trägt die Hauptfigur etwa den Mädchennamen von Ditlevsens Mutter. Auch in der Beschreibung der seelischen Erkrankung sind biografische Bezüge erkennbar 

 

Im Zentrum der Handlung steht Lise Mundus, die scheinbar alles hat, was zum (äusseren) Glück gehört: beruflichen Erfolg, Familie, finanzielle Sicherheit. Als sie jedoch einen Kinderbuchpreis erhält, gerät sie aus dem Gleichgewicht. Ihre Berühmtheit reisst ihr „brutal jenen Schleier weg, der sie immer von der Wirklichkeit getrennt hat“. Sie gerät in eine Schaffenskrise. Die Angst, „man könnte sie enttarnen und herausfinden, dass sie etwas zu sein vorgab, was sie nicht war“, wird zur ständigen Begleiterin. Auch die Ehe droht in die Brüche zu gehen, denn der Mann fasst ihren Erfolg „als persönliche Beleidigung“ auf. Zur Schreibkrise gesellen sich Wahnvorstellungen.

Lise meint, Stimmen zu hören, und sieht Gesichter, die bösartig und erfolgreich ihre Unsicherheit und Selbstzweifel schüren. Auch als Leserin wird man zunehmend verunsichert: Hat der Ehemann tatsächlich ein Verhältnis mit der Stieftochter? Schmiedet er heimlich ein Komplott mit der Haushaltshilfe, um Lise aus dem Weg zu räumen? In „Gesicher“ wird der Zustand einer Psychiatriepatientin auf eindrückliche Weise erfahrbar. Auch die Praktiken der Psychiatrie der 60er-Jahre werden hinterfragt und kritisch beleuchtet.

 

Die Genesung der Protagonistin manifestiert sich am Ende des Buches in ihrem Entschluss, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Die Krankheit aber bleibt letztlich eine Metapher für die Freiheit: denn „das Verrücktsein“ bietet – ähnlich wie das Schreiben auch – einen Schutz vor der unerträglichen Wirklichkeit.

 

– Sandra Valisa

 

 

 

 

Patrick Leigh Fermor: Eine Zeit der Stille – zu Gast in Klöstern

(Dörlemann, Zürich 2022 – aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren)

Eine Zeit der Stille

Wunderbar, dass es immer noch Verlage gibt, die sich einem Autor mit Haut und Haaren verschreiben und alles übersetzen und publizieren, was er je zu Papier gebracht. Eine solche Liebesgeschichte verkörpern die elf schön gestalteten Bücher des britischen Stilisten Patrick Leigh Fermor (1915–2011), die der Zürcher Dörlemann Verlag seit 2004 herausgebracht hat. Ein einziger Roman („Die Violinen von Saint-Jacques“) ist dabei, aber Furore hat Fermor vor allem als Reiseschriftsteller gemacht. Über eine Wanderung von England nach Konstantinopel, die er als Achtzehnjähriger in Angriff nahm, schrieb er drei grosse Werke, die erst viele Jahrzehnte nach der Reise erschienen.

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Weite Zeitspannen sind bezeichnend für den langen Atem eines Autors, der ein spektakuläres Leben führte und darüber ganz unspektakuläre, gelassene und gerade darum beeindruckende Bücher schrieb.

Zur lebenden Legende wurde Fermor im Zweiten Weltkrieg: Als Agent der britischen Special Operations Executive organisierte er auf Kreta den Widerstand der Einheimischen gegen die deutschen Besatzer und entführte den obersten Befehlshaber der Nazi-Truppen auf der griechischen Insel – ein Abenteuer, das mit Dirk Bogarde in der Hauptrolle verfilmt wurde.

 

„Eine Zeit der Stille“ legt Zeugnis ab von Aufenthalten in den französischen Klöstern St. Wandrille de Fontenelle, Solesmes und La Grande Trappe, die Fermor in den fünfziger Jahren als Gast aufsuchte, um sich eine Weile aus dem Trubel des weltlichen Lebens zurückzuziehen. Auch heute mag es noch ähnliche Berichte über die wohltuende Wirkung solcher Weltfluchten geben. Sie strotzen vermutlich vor angestrengter Heilssuche und verklärten Achtsamkeitsrezepten.

Nichts ist Fermors Aufzeichnungen ferner als solche esoterische Aussteigerrhetorik. Nüchtern, aber elegant schildert er seine mühselige Annäherung an das klösterliche Leben, das ihm zunächst deprimierend und bizarr vorkommt. Aber gerade weil er keine Erlösung sucht, öffnen sich ihm neue Perspektiven.

Minutiöse Beschreibungen der Bauten ergänzen die Abfolge der Gebete und Gesänge und die knappen Porträts derjenigen Mönche, mit denen der Autor ins Gespräch kommt. Fermor ist ein leidenschaftlicher Leser von Joris-Karl Huysmans, aber er versenkt sich auch in historische Werke und führt uns durch die wechselvolle Geschichte des französischen Mönchtums.

 

Im Benediktinerkloster von St. Wandrille erlebt der Gast noch eine Art ästhetischer und intellektueller Lust in der Bibliothek oder angesichts des prächtigen Rituals der Gottesdienste.

Bei den Zisterziensern mit ihren Sprechverboten, ihrer monotonen Bejahung der Unwissenheit und ihrer Todesnähe (nach der Devise: „Plus on est mort, plus on a la vie.“) funktioniert das weniger gut. Doch Fermor beobachtet Patrick Leigh Fermor: Eine Zeit der Stille – zu Gast in Klöstern (Dörlemann, Zürich 2022 – aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren) die Welt der Mönche und sich selbst, ohne zu urteilen: „Ich hatte genug moderne Vorurteile, um vor einigen Aspekten des zisterziensischen Lebens zurückzuzucken, und genug Demut und Gespür, genug Beweise, dass dem trappistischen Leben eine fast übermenschliche Grosszügigkeit und Selbstlosigkeit zugrunde liegt, um zu wissen, dass sowohl mein Zurückzucken als auch mein Gespür falsch waren. Ich besass kein geeignetes geistiges Instrument, mit dem ich meine Erfahrungen hätte messen und einordnen können.“

 

Die Erfahrung, die uns dieses schmale Buch mitteilt, lautet: Es ist gar nicht immer nötig, den Widerspruch zwischen Widerwillen und Faszination aufzulösen. In der selbstgewählten Entfremdung ist Fermor ganz bei sich – ohne Heuchelei oder Anbiederung

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

Patrick Marnham: Schlangentanz. Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters

(Berenberg, Berlin 2015 – aus dem Englischen von Astrid Becker und Anne Emmert)

Schlangentanz

Das hier vorgestellte Buch von Patrick Marnham, seines Zeichens Journalist, Biograf und BBC-Korrespondent, ist keine Neuerscheinung. Dennoch könnte es sich um eine handeln, haben wir doch einen Reisebericht mit historischem Kontext vor uns, der sich unweigerlich in das Epizentrum einer sich verdüsternden Gegenwart schraubt, von wo aus die seismischen Wellen dann radioaktive werden und die Beben nuklear.

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Marnham ergründet in „Schlangentanz“ die Ursprünge der Kernforschung, späterhin spezifisch ausgerichtet auf die fatale Konsequenz, welche sich aus wissenschaftlichem Eifer, wissenschaftlicher Grandeur und eben durchaus auch einer gewissen Naivität ergeben hat, als im sogenannt Goldenen Zeitalter der Physik, den 1920er Jahren also, das Atom respektive dessen Modifikationen hinsichtlich Energiefreisetzung das Augenmerk der gesamten Welt auf sich zogen, während sowohl der gerade überstandene als auch der am Menschheitshorizont dämmernde Weltkrieg der atomaren Forschung den Drall zur Verfertigung der tödlichsten Massenvernichtungswaffe gaben.

 

Wir reisen folglich mit dem Autor in stimmiger Chronologie vom kolonialen Belgisch-Kongo, von wo das Uran für die Bombe stammte, über die Plateaus von New Mexico, wo Robert Oppenheimer der berühmt-berüchtigten Forschungsstation Los Alamos vorstand und das „Manhattan Project“ vorantrieb, bis hin zu Hiroshima und Nagasaki in Japan, dem Kulminationspunkt nuklearer Zerstörung bis dato. Dabei werden die Rüstungswettläufe zwischen den USA, Europa (genauer dann: Deutschland unter dem Nationalsozialismus) sowie der Sowjetunion genauso beleuchtet wie auch die kalte Kriegslogik einer alle Warnungen negierenden Nation, welche sich durch den Einsatz von „Little Boy“ und „Fat Man“, zweier Atombomben auf Uran- bzw. Plutoniumbasis, zur Supermacht aufschwang, ungeachtet dessen, damit die Weltuntergangsuhr auf fünf vor zwölf gestellt zu haben.

 

Was nun dem Werk nebst den Erwähnungen von Elektronenorbitalen, Kettenreaktionen und Neutronenbeschuss seinen zusätzlichen Gehalt verleiht, sind die adäquat eingearbeiteten Referenzen zur Kulturgeschichte, sei es Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, um dem kolonialen Horror in Afrika literarisch zu begegnen, sei es Aby Warburgs kunsthistorischer Ansatz zu den Pueblo-Indianern New Mexicos, deren Schlangentanz zur Herbeirufung und Zähmung der Himmelsenergie dem Buch den Titel verlieh, oder sei es ein Disput zwischen Yukio Mishima und Kenzaburō Ōe um den Effekt der Bomben auf das Dasein Japans in der Weltgemeinschaft… Diese unglaublich dichte, durch das Verweben genannter Diskurse entstehende Atmosphäre verleiht diesem Buch, das eigentlich ein Reisebericht mit essayistischen Qualitäten sein möchte, eine fast schon eigene Epik: Dergestalt beschreibt es den Aufstieg des Nuklearzeitalters, dessen Anfang bereits schon das Ende in sich trägt.

 

– Sandro Schäppi

 

 

 

 

Daniel Strassberg: Spektakuläre Maschinen – Eine Affektgeschichte der Technik

(Matthes & Seitz Berlin, 2022)

Maschinen

Dass Maschinen heftige Wutanfälle auslösen können, dürften die meisten von uns schon am eigenen Leib erfahren haben, etwa wenn das Auto nicht anspringt oder der Computer nicht so will wie wir. Aber Maschinen können auch Liebe wecken, wie in Spike Jonzes Film „Her“, wo sich Joaquin Phoenix in ein Betriebssystem namens Samantha (mit Scarlett Johanssons Stimme) verknallt. Der Zürcher Philosoph und Psychoanalytiker Daniel Strassberg legt nun eine packende Studie darüber vor, was Maschinen mit unseren Emotionen anrichten können. Den Auftakt des reich illustrierten Tour d’Horizon durch den wundersamen Maschinenpark der Menschheitsgeschichte bildet die schmachvolle Niederlage des damaligen Schachweltmeisters Garry Kasparow gegen den IBM-Computer Deep Blue im Jahre 1997, die bei den einen Euphorie, bei den anderen tiefe Verzweiflung hervorrief.

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Affekte versteht Strassberg in der Tradition Spinozas als „Konstellationen“, das heisst als Gemengelage von Gefühlen, kollektiven Fantasien, technischem Wissen und politischen Verhältnissen. Mit psychoanalytischer Erfahrung und philosophischem Gespür entlarvt der Autor die verbreitete Angst vor der Technik als Angst vor einer „Bestrafung für Allmachtsgelüste“ und zeigt auf, dass die Befürchtung, von Maschinen beherrscht oder vernichtet zu werden, nur die Kehrseite einer starken Faszination für Technik ist. Auf dieser Basis frönt das Buch einer fundamentalen Funktionslust und Begeisterung für die „Beeindruckungsapparaturen“, die es versammelt. Seine zentrale These besagt, dass die Maschinen zunächst nicht im Dienst der Nützlichkeit standen, sondern vor allem ein Spektakel boten.

An Beispielen mangelt es nicht: von den „Deus-ex-machina“-Kränen des antiken Theaters über die schreibenden und Orgel spielenden Puppen der Neuenburger Uhrmacherfamilie Jaquet-Droz und den zwei Meter grossen, hölzernen Tiger des Sultan von Mysore, der einen britischen Soldaten frisst, (beides im 18. Jahrhundert) bis hin zu den Kunstmaschinen des 20. Jahrhunderts wie Jean Tinguelys „Homage to New York“, die sich 1960 im Museum of Modern Art selber zerstörte.

 

Maschinen sind dazu da, das Leben zu feiern, weiss Daniel Strassberg und schreibt ein äusserst kurzweiliges Buch, das das Leben und die Maschinen feiert. Viel Überraschendes ist zu erfahren über die jüdische Golem-Mythologie, den barocken Universalgelehrten und Papstagenten Athanasius Kircher, die Maschinentragödien des französischen Klassikers Corneille und Diderots Meisterdialog „Le Rêve de d’Alembert“. Nach dreihundert Seiten Spektakel folgt im letzten Viertel des Buches eine ebenso spannende wie stringente Geschichte der Maschine im 19. und 20. Jahrhundert. Strassberg verknüpft plausibel und brillant die Entdeckung des Blutkreislaufes mit der Entwicklung der Dampfmaschine, der Warenökonomie von Adam Smith und Karl Marx sowie der Formulierung der Thermodynamischen Hauptsätze.

Dies alles verschmilzt „zu einer allgemeinen Ökonomie des (Um-)Tausches, zu einem universellen Äquivalenzystem, in dem Kraft und Wert miteinander verrechnet werden können.“ Und so drängt sich die spröde Nützlichkeit eben doch immer impertinenter in die Party der spektakulären Maschinen. Auf den allerletzten Seiten geht es um den Computer als Denk- und Gottesmaschine, und wir verstehen, warum die bedrohlichste Frage nicht lautet: Gleichen sich die Maschinen den Menschen an? Viel beklemmender ist die Beobachtung, dass wir Menschen immer maschinenähnlicher werden. Indem wir uns den Erfordernissen des Computers anpassen, verstehen wir unter Denken, „aufgrund von Informationen zwischen Möglichkeiten zu entscheiden“.

Das macht uns zu verbissenen Problemlösern und wandelnden Algorithmen, und wir könnten dabei leicht vergessen, dass das Denken – wie die spektakuläre Maschine – auch eine Feier des Lebens sein könnte. Doch bei der Lektüre von Daniel Strassbergs Buch wird auch klar: Die Gefahr geht nicht von der Maschine aus, sondern von den Menschen, denn ob wir uns entfremdet und versklavt fühlen, „hängt von den realen Machtverhältnissen, nicht von der Technologie ab“.

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

Serhij Zhadan: Antenne – Gedichte

(edition suhrkamp, Berlin 2020 – aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe)

Antenne

In Luhansk geboren und seit langem in Charkiw wohnhaft, ist Serhij Zhadan der Tausendsassa der jüngeren ukrainischen Literaturszene. Er schreibt Romane (z. B. „Depeche Mode“, „Hymne der demokratischen Jugend“, „Internat“), Essays (z. B. „Big Mäc“) und Lyrik. Der Band „Antenne“ vereint Gedichte aus den letzten Jahren, die geprägt sind von der russischen Aggression im Osten des Landes. Es sind suchende, schweifende Texte, die sich wie Spiralen um sich selber drehen und Muster weben – Lieder, Liturgien. Sie erzählen uns kleine Alltagsgeschichten, spiegeln den Tod des Vaters, Beziehungen, sehr oft die Natur. Fast aus jedem Gedicht wachsen Bäume, spannen sich Himmel auf, bevölkert von Vögeln: „Und weil die Vögel ihm nicht zuhören,/ will der Dichter sie zählen/ in den Herbstschwärmen unterm Himmel.“ Von besorgten Staren singt Zhadan, von Schwalben mit starkem Herzen, von den Möwen, mit denen uns das Meer bewirft, und von Wildgänsen am Winterstrand.

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Winter wird es immerzu in diesen Elegien, die manchmal an Jim Morrisons „An American Prayer“ erinnern: das ukrainische Gebet eines Atheisten? Eigentlich, so hat man beim Lesen den Eindruck, möchte Zhadan den Aufbruch besingen, das vielfältige, flüchtige, gloriose Leben neuer Generationen, das freie Atmen oder den Moment, in dem man sich vor Begeisterung verschluckt. Aber immer wieder zerbricht sein Elan an der Wirklichkeit, ein Schweigen legt sich auf die Sprache, einer zieht in den Krieg, ein anderer kehrt traumatisiert zurück: „Und doch fängt ein weiterer Winter an./ Und doch bricht ein weiteres Gespräch ab./ Die herrliche Welt erstarrt in Erwartung von Wundern./ Keiner lässt sich von irgendwas überzeugen./ Keiner glaubt an das Jüngste Gericht./ Und an die Dichtung glaubt auch keiner.“

 

Zhadans Dichtung lebt auch ohne den Glauben, allein im Atmen, im Sehen und Hören, im Nachdenken über sich selbst: „Die unendlichen Eigenschaften der Sprache./ Ihre geheimnisvolle Struktur./ Hoffnung durch unsere Körper treiben/ wie Fische ans schwarze Ufer,/ das rechte Wort durchs Herz führen/ wie einen Wanderer durch den Wald.“

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

Dezember 2021

 

 

Matsuo Bashô: Haibun

(Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung, übersetzt von Ekkehard May)

Haibun

In Japan, diesem Inselstaat am anderen Ende der Welt, gibt es sie: die Meister-Klasse. Einer dieser Meister, der genannten Rang seit jener Zeit innehat, als Tokyo noch Edo hiess und die japanischen Präfekturen von Feudalherren geleitet wurden, ist Matsuo Bashô (1644-1694). Aufgewachsen in einer Familie ständisch niedriger Samurai, entschied er sich, sich nicht dem Bushido – dem Moralkodex der Kriegerkaste – zu unterwerfen, sondern in Anlehnung an den chinesischen Zen‑Buddhismus sein Heil in der Meditation, der Naturbetrachtung zu suchen und also alle inneren und äusseren Eindrücke zweckungebunden sowie spontan festzuhalten in Schriftzeichen, welche er, im spezifischen Falle, wiederum zum Haibun anordnete.

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Durch sein Streben, dem poetischen Hybriden aus Kurzprosa und Haiku eine Perfektion anzueignen, erhob er ihn in den späteren Stand von Weltliteratur sowie sich selbst in den eines sogenannten Meisters.

 

Ein Haibun selbst generiert sich aus Betrachtung, Selbstreflexion, innerer Einkehr, Umgebungsadaption, formt sich zu einer Schilderung wahrer, im Moment empfundener Sensibilität gegenüber jeglichem Akt oder Sein der Schöpfung und unterstreicht somit diese ganz spezielle Ästhetik, wie sie so wohl nur Japan fassen und konservieren kann, als ob es in der Partitur der Weltharmonie die Zwischentöne auf ganz eigene Weise zu modulieren vermöchte. Bashô folgt beim „Zeichnen“ des Haibun seinen eigenen literaturtheoretischen Ansätzen und erschafft zuerst einen kleinen Textkörper als Exposition, um dessen Inhalt dann in einem Haiku kulminieren zu lassen, was in der Summe ein „Gemälde“ spontaner Empfindung ergibt, in welchem sich, passend zu Natur und Jahreszeit (manifest durch ein kigo, also ein Jahreszeiten-Schlüsselwort), das Wesen, sei es nun Tier, Mensch, Geist oder Kraft, einfügt, um die Szenerie zu vervollständigen und der ganzheitlichen Betrachtungsweise von Sein, Veränderung und Vergehen Genüge zu tun.

 

In der vorliegenden, schön leinengebunden Ausgabe aus der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung Mainz finden sich 84 solcher Haibun des Meisters, die uns Episoden aus seinem Leben und seinem damaligen Erfahren Japans durch seine transzendenten wie auch immanenten Beobachtungen und Sinneseindrücke erzählen, wie sie wunderbarer und feinfühliger nicht sein könnten.

 

Als kleine Anregung hier Haibun Nr. 3 mit dem Titel „Lebe einsam verloren“:

Den Mond betrachtend ertrage ich meine Verlorenheit, bejammere mein unglückliches Geschick, beklage meine Unfähigkeit. „Ich ertrage Schmerz und Einsamkeit“, möchte ich antworten, doch da ist niemand, der mich fragte. So empfinde ich mich noch trauriger und verlorener:

Lebe einsam verloren! –

Die Lieder des Herrn Mondverloren –

Ein billiges Reisgericht

 

– Sandro Schäppi

 

 

 

 

Susanne Gramatzki / Renate Kroll (Hg.): Keine Bilder ohne Worte –Fotografinnen und Filmemacherinnen und ihre Texte

(AvivA, Berlin 2021)

Keine Bilder ohne Worte

Alice Guy, die Erfinderin des Spielfilms, fing eine vom Filmset ent-laufene Löwin mit einer Mistgabel ein. Madame d‘Ora plädierte mit ihren Schlachthausfotografien für die künstlerische Freiheit, Schönheit dort zu finden, wo man sie nicht vermuten würde. Esther Schub etablierte in der frühen Sowjetunion das Genre des Kompilationsfilms, was dazu führte, dass sie in zwei Monaten über 60.000 Meter Positive und Negative durchsah.

Insgesamt vierzehn Künstlerinnen werden im Buch „Keine Bilder ohne Worte“, herausgegeben von Susanne Gramatzki und Renate Kroll, versammelt.

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Jede Künstlerin lassen die Herausgeberinnen aus verschiedenen Texten für sich selber sprechen, um diese dann durch Beiträge verschiedener Kunsthistorikerinnen, Medien- und Literaturwissenschaftler zu ergänzen. Briefe, Memoiren, Essays, Lyrik und Fiktionales, aber auch praktische Erfahrungen der konkreten Arbeit, Theorien über Fotografie, Film oder allgemein über bildende Künste zeigen, dass die Künstlerinnen nicht nur die Kamera, sondern auch das Schreiben meisterhaft beherrschten.

 

Arbeiten mit der Kamera ist immer ein Arbeiten mit der Sprache, halten die Herausgeberinnen im Vorwort fest. In ihrem Buch haben sie es geschafft, diese Parallele zwischen Geschriebenem und von der Kamera Geschaffenem deutlich herauszuarbeiten: Durch die Sprache klingen die Bilder, die visuellen Botschaften werden verstärkt oder umgelenkt, vor allem aber treten die Künstlerinnen als lebendige Wesen aus ihnen hervor, teilen ihre Meinungen, Gedanken und Gefühle mit, stossen einen teils fasziniert ab, wie Leni Riefenstahl in ihren Memoiren, und entführen uns in ihre Welten, nach Paris, Berlin, New York und ins Russland des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts.

 

Dieses Buch ist wärmstens allen zu empfehlen, die sich für Film und Fotografie begeistern, Lust haben, auf Künstlerinnen und Pionierinnen zu treffen, die von der Geschichtsschreibung fahrlässig vernachlässigt wurden. Ein kurzes Blättern genügt, und schon beginnt eine eindrucksvolle Entdeckungsreise durch die letzten hundert Jahre unserer Kunstgeschichte.

 

– Artemisia Valisa

 

 

 

 

Werner Herzog: Das Dämmern der Welt

(Hanser, München 2021)

Herzog

Für flachere Geister ist ein Mann ein Mann und ein Krieg ein Krieg. Darum enervieren sich einige Kritiker über „Das Dämmern der Welt“, das 2021 erschienene, neue Buch von Werner Herzog, es sei machoid und heroisiere Krieg und Militär. Andere sind begeistert – im September war es auf Platz 1 der renommierten SWR-Bestenliste.

Das Buch – vom Verlag klugerweise nicht als „Roman“ präsentiert – erzählt die Geschichte des japanischen Offiziers Hiroo Onoda, der 1945 das Ende des Zweiten Weltkrieges verpasste und fast dreissig Jahre lang den Auftrag zu erfüllen versuchte, die kleine philippinische Insel Lubang durch Guerillakriegführung bis zur Rückkehr der kaiserlichen Armee zu verteidigen.

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Zunächst zusammen mit drei Soldaten, die nach und nach bei Scharmützeln mit Philippinen getötet werden, dann allein lebt Leutnant Onoda im Dschungel, perfekt getarnt und dauernd in Bewegung – ein geisterhafter Kobold der Camouflage. Er stiehlt Reis bei einheimischen Bauern, schiesst gelegentlich einen Wasserbüffel und übersteht nach eigener Aussage 111 Hinterhalte. Flugblätter und Durchsagen, der Krieg sei zu Ende, hält er für tückische Fallen. Erst als sein ehemaliger Major, unterdessen ein Greis, auf die Insel gebracht wird und die japanische Kapitulation bestätigt, lässt er ab von seinem Kampf und übergibt sein Samurai-Schwert, „ohne jeden Hauch von Rost“.

 

1997, im Zusammenhang mit einer Operninszenierung in Japan, begegnete Werner Herzog Onoda, der über neunzig Jahre alt wurde, persönlich. Dessen Geschichte „hätte auch ein Film werden können“, sagt er, doch wie er sie stattdessen in Sprache fasst, das ist das Gegenteil von Kriegsverherrlichung. Als Onoda, dieser Seelenverwandte von Aguirre und Colonel Kurtz, 1974 erklärt, warum er sicher war, dass der Krieg nicht zu Ende sei, verweist er auf die amerikanischen Flugzeuge, die er zu Beginn der fünfziger Jahre, aber auch in den sechziger und siebziger Jahren am Himmel gesehen habe. Man erzählt ihm vom Korea- und Vietnam-Krieg. Aber im Grunde hat er recht: Der Krieg ist wirklich nie zu Ende gegangen.

 

Wenn Onoda und seine Gefährten Satelliten beobachten und sich zu erklären versuchen, wenn sie darüber sinnieren, ob ihr Kalender noch stimmt, wirken sie wie Figuren aus einem Stück von Samuel Beckett – grosse Wartende und absurde Paranoiker, die sich an dem alten, vergeblichen Spiel versuchen, Welt und menschliches Denken zur Übereinstimmung zu bringen: „Die Wirklichkeit ist mit versteckten Codes ausgestattet, oder Codes sind mit Wirklichkeit angereichert, wie Adern von Erz im Gestein.“

 

Onoda versucht sich eine eigene Welt zusammenzureimen, an der er umso starrköpfiger festhält, je weniger sie aufgeht. Es kann kaum eine spöttischere Kritik des Krieges geben als Werner Herzogs Onoda, diesen tragikomischen Don Quixote des Dschungels, dessen „fast schon religiösen Glauben an Fälschungen und die Ignoranz des Feindes“ der Autor weder verherrlicht noch wohlfeil verurteilt. Wie in seinen Filmen führt uns Herzog das Wundersame, Fremdartige und Radikale vor Augen, das im menschlichen Leben aufscheint, wenn sich dieses nicht in der Alltagsroutine der sogenannten Zivilisation und des Konsums verschanzt. Der ewige Soldat im Dschungel ist ein idealer Stoff für den Romantiker Herzog. Sein Schreiben lebt von der Sehnsucht, die Spaltung und Banalisierung der Welt rückgängig zu machen. Als Erbe von Kleist, Eichendorff, Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode vertieft er diesen Riss noch, macht ihn immer schmerzlicher spürbar. Das „Dämmern der Welt“ ist ein Heraufdämmern, eine Form der künstlerischen Welt- und Selbsterschaffung. Aber es ist auch der Nebel, der den Soldaten im Dschungel Schutz bietet, der zwielichtige Dämmerzustand der zeitlosen Unentschiedenheit zwischen Wirklichkeit und Traum.

 

Kreative Kraft und trügerischer Nebel der Illusion. Herzogs Werk ist eine grandiose Parabel auf die Literatur, auf das Kino – auf die Kunst. Für diese unstete, kaum fassbare Wirklichkeit der Fiktion und Poesie findet Herzog eine pathetische, aber auch sinnliche, bildstarke Sprache, die dunkel aufblitzt wie ein Gemälde von Johann Heinrich Füssli: „In den Schrecken der Nacht war da ein Pferd mit glühenden Augen, das Zigarren rauchte. Ein Heiliger hinterliess einen tiefen Abdruck im Fels, auf dem er schlief. Elefanten, nachts, träumen im Stehen.“

 

– Michael Pfister

 

 

 

 

September 2021

 

 

Archilochos: Gedichte

(Reclam, Stuttgart 2021, hrsg. und übersetzt von Kurt Steinmann)

Archilochos Gedichte

Dieses mulmige, aber wohlige Gefühl, wenn wir von einer schwankenden Hängebrücke in den Abgrund blicken, es stellt sich auch ein, wenn wir Literatur lesen, die vor 2700 Jahren geschrieben wurde. Die spitzen Steine dort unten, der rauschende Bach, sind so weit weg und doch so nah. Es war eine ganz andere Welt, in der Archilochos von Paros damals, im frühen 7. Jahrhundert vor Christus, lebte, und doch trieb ihn dasselbe um wie uns Heutige: Krieg, Liebe, die Frage, wer wir sind.

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„Ich bin Diener des Herrn Enyalios / und bin kundig des lieblichen Geschenks der Musen.“ So beginnt die Sammlung der Texte und Textbruchstücke, die uns von Archilochos erhalten geblieben sind und die wir in der ruhigen, klaren Übertragung von Kurt Steinmann lesen.
Der 76-jährige Luzerner ist eines der weniger bekannten Schwergewichte der Schweizer Literatur. Schon während er am Gymnasium Griechisch und Latein unterrichtete (etwas, was wir bald nur noch vom Hörensagen kennen werden), übersetzte er zahlreiche Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides, philosophische Werke von Theophrast und Epiktet, lateinische Texte von Petron bis Petrarca und, als Glanzstück, Homers „Odyssee“ und „Ilias“ (bei Manesse). Und eben die ganz frühe Lyrik von Sappho und Archilochos. Das vorliegende zweisprachige Bändchen basiert auf einer Insel-Edition von 1998.

 

Steinmanns Edition beschränkt sich nicht auf die Eindeutschung, sondern schenkt uns zu jedem noch so kleinen Fragment kurze, kluge Kommentare, die uns das Verständnis des Zusammenhangs erleichtern. Der „Herr Enyalios“ etwa ist ein karischer Schlachtdämon, dem der Krieger Archilochos sich verschrieb, und der einzelne Satz „Eine Zikade hast du am Flügel gefasst.“ erweist sich als Selbstporträt: „Wer den spottfreudigen Dichter reizt, wird die Wucht seiner Jamben umso stärker zu spüren bekommen.“ Eine hervorragende Übersetzung, wie Steinmann sie erschafft, leistet vor allem die Vermittlung von Vertrautheit und Fremdheit. Die Sperrigkeit und Schroffheit dieser alten Verse wird nicht versäuselt, aber auf einmal klingt sie ganz zart, und wir erleben Archilochos als unseren Zeitgenossen. Noch mehr als in Liebesschmerz und philosophischer Selbsterkundung liegt das Grundmenschliche, das die Jahrtausende verbindet, in der – Bösartigkeit. Wenn wir uns über die Zumutungen unserer technisierten Kommerzwelt und die Ignoranz unserer Mitmenschen ärgern, können wir Archilochos aufschlagen und sehen, dass es ihm nicht besser ging. Aus seiner wetternden Wut machte er Poesie, die uns heute noch tröstet und aufstachelt:

 

„… von den Wogen verschlagen.
Und in Salmydessos mögen ihn, den nackten, aufs Freundlichste
Thraker, am Wirbel behaarte,
empfangen – dort wird er viele Übel erfüllen,
wenn er Sklavenbrot isst –,
den vor Kälte Erstarrten, und aus der salzschäumenden Flut
soll viel Tang ihn bedecken,
und mit den Zähnen soll er klappern, wenn er wie ein Hund auf der Schnauze
liegt, hilflos,
dicht bei der Brandung der Wogen… –
das möchte ich sehen!:
er, der mir Unrecht getan und mit den Füßen trat auf die Eide –,
und war doch früher mein Freund!“

 

– Michael Pfister

 

 

 

Christine Macel / Karolina Ziebinski-Lewandowska (Hg.):
Elles font l’abstraction

(Editions du Centre Pompidou, Paris 2021)

Abstraction



Abstraction

In diesem Sommer, als die Touristen nach und nach wieder an die Seine zurückkehrten, zeigte das Centre Pompidou eine umfassende Ausstellung über abstrakte Künstlerinnen aus aller Damen Länder, von den 1860er Jahren bis heute. Wer es heuer noch nicht nach Paris schaffte und auch keine Gelegenheit findet, demnächst nach Bilbao zu reisen, wo das Guggenheim-Museum die Schau vom 22. Oktober bis zum 27. Februar 2022 übernimmt, findet sich reich entschädigt durch einen gewichtigen, neonorangen Katalog mit zahlreichen Essays, Porträts und einer dynamischen Chronologie, die Kunstwerke, Publikationen und Meilensteine des Feminismus zu einer kurzweiligen Synopsis verknüpft.

Besonders spannend sind die Kapitel über die Geburt der abstrakten Kunst aus dem Geist des Spiritismus und Okkultismus, der das späte 19. Jahrhundert prägte und auch andere Blüten der Moderne trieb, wie etwa die Psychoanalyse.

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Nicht-figürliche Darstellungen repräsentieren zunächst das Jenseits und die Geisterwelt, so etwa bei Georgiana Houghton, die die „spirituelle Krone“ ihrer Modelle in wilde Kreise bannt, oder bei der Schwedin Hilma af Klint, deren Schwanengemälde anmuten wie Zielscheiben einer mysteriösen Göttin. Die männlichen Dominatoren – wen wundert’s? – überlassen den Damen zunächst fast nur die traditionell weiblichen Domänen wie Tanz (Loïe Fuller, Valentine de Saint-Point, Gret Palucca) und Textilkunst (Sophie Taeuber-Arp, Sonia Delaunay-Telk, Vanessa Bell, Gunta Stölzl), denen die Künstlerinnen aber auch aus freien Stücken und mit souveräner Spielfreude bis in unsere Gegenwart treu bleiben – so etwa die grossartige Sheila Hicks, von der soeben in der Arnoldschen Verlagsanstalt der feine Band „Garn Bäume Fluss“ erschienen ist.

 

Zu den schönsten Stücken gehören aber auch die kühlen, rationalen Schwarz-Weiss-Kompositionen von Bridget Riley und die Wellenfotografien von Berenice Abbott. Die Faltungen der ungarischen Experimentalfilmerin Dóra Maurer und der amerikanischen Zeichnerin Dorothea Rockburne. Last, not least die „Eccentric Abstraction“ der sechziger und siebziger Jahre, mit den Würmern, Würsten und Wülsten von Louise Bourgeois und Eva Hesse und den bunten Rauchfrauen, die Judy Chicago in der kalifornischen Wüste tanzen liess.

 

– Michael Pfister

 

 

Tomas Espedal: Lieben

(Matthes & Seitz, Berlin 2021, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel)

Lieben

Der Ich-Erzähler, ein tatsächlich namenloses Ich und daher nicht nur als Alter Ego des Autors, sondern auch als Pronomen für jede/n einzelne/n Leser/in zu verstehen, verbringt seine Zeit als Teil einer zum Selbstzweck geformten Gesellschaft in einem Küstendorf in Norwegen damit, über das Einzige nachzudenken, was noch von Belang ist, wenn jegliche Liebe aus dem Leben entflohen ist und die eigene Schöpfungsgeschichte nur noch den Umkehrschluss zulässt, um nicht bedeutungs- und klanglos zugrunde zu gehen: Das Ende aller Dinge muss die letzte Liebe sein, die es an sich selbst zu erfüllen gibt. Und so erzählt uns Tomas Espedal vom Tod, der gewollt und dem Sterben, das willkürlich ist, dem guten Tod als Schlussakkord einer unterdessen viel zu normalen, fast schon banalen Existenz voller vergeudeter Empathie.

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Das Ich des Romans hat sich als Autor versucht, Sternstunden erlebt, nur um danach doch mit irgendeiner zufälligen Bekanntschaft in einer zufälligen Bar billigen Alkohol sowie Nikotin zu konsumieren und dabei in die Schatten der Nacht sowie im Nebel des Geistes zu entschwinden; hat geheiratet, Sehnsucht und Wärme verspürt und dennoch seine Frau zu früh an den Krebs verloren; hat Kinder gezeugt, ein Haus gekauft, Rasen gemäht, Kleider an- und ausprobiert, einen juristischen Prozess über sich ergehen lassen, Unterhaltungen geführt, Interesse empfunden oder geheuchelt, menschliches Einvernehmen gespielt, gewonnen, verloren – und dabei doch immer diesen Seelenschmerz mit sich herumgetragen, dem Tod das Dasein schuldig zu sein, es nur im Angesicht der Auslöschung wertschätzen zu können, die Endlichkeit quasi als in diesem Sinne eben sinnstiftend zu erfahren, dass ein gutes Ende den letzten inszenierten Akt der Schönheit in einer begrenzt haltbaren Zeitblase darstellen muss, um die erlösende Stille in Erhabenheit zu erreichen.

 

Espedal führt uns mit „Lieben“, dem Abschlussband des Zyklus, welcher mit „Wider die Natur“ begonnen hat, in gewohnt poetisch-lakonischer Weise, fokussiert wie auch mit dieser einzigartig sanften, dennoch drängenden Melancholie eines Nordländers durch die (gewollt) negative Seite der Menschwerdung, indem wir den Protagonisten – nach seiner Entscheidung, den guten Tod in Eigenregie zu finden – ein Jahr lang auf seinen mäandrierenden Wegen begleiten, vorbei an Zweifeln, vorbei an Erkenntnissen, vorbei an zweisamer Einsamkeit, an Erinnerungen mitsamt deren Lücken, hin zu diesem einen speziellen Punkt in Zeit und Raum, an dem wir final anerkennen müssen: Die conditio humana beruht allein auf dem Gedanken der Liebe sowie dessen Verneinung. Oder wie Espedal es ausdrückt: „Das ist der Anfang vom Ende. Du lebst betäubt, der Schmerz ist weg, er ist die Todeswarnung durch den Tod selbst. Du liebst nicht mehr, du wartest auf den Tod. Wie lange musst du warten?...“

 

– Sandro Schäppi

 

 

Philipp Sarasin: 1977 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart

(Suhrkamp, Berlin 2021)

1977

Die Jahre sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Was früher nicht alles während einer einzigen Sonnenumkreisung geschah! Zum Beispiel 1977, im Jahr, dem der Zürcher Geschichtsprofessor Philipp Sarasin ein reichhaltiges, schwungvoll geschriebenes und zum Denken anregendes Buch gewidmet hat: Die Raumsonden Voyager I und II starteten ihren unendlichen Flug ins All (heute rund 20 Milliarden Kilometer von unserer Sonne entfernt); Charlie Chaplin und Elvis segneten das Zeitliche; das Internet (als ARPANET) und Emmanuel Macron wurden geboren, das Centre Pompidou in Paris und das Studio 54 in New York eröffnet; Amnesty International erhielt den Friedens-nobelpreis; Apple lancierte den ersten Heimcomputer; Enzensberger schrieb „Der Untergang der Titanic“; „Star Wars“ kam in die Kinos; das feministische Combahee River Collective verwendete zum ersten Mal den Begriff „Identitätspolitik“; im „Deutschen Herbst“ überstürzten sich die Ereignisse mit der Entführung einer Lufthansa-Maschine, dem Selbstmord dreier inhaftierter RAF-TerroristInnen und der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.

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Sarasin gelingt es, „wie in einem Standbild Gleichzeitigkeiten sichtbar werden zu lassen“, den „Strukturbruch“ aufzuzeigen, der Mitte der siebziger Jahre eine längere Zeit des Aufschwungs und der Leichtigkeit beendete. Eine gewisse Trägheit breitete sich aus, eine neue Schwere, geprägt von neoliberaler Habgier, konservativem Fundamentalismus, narzisstischer Heilssuche, Kommerzialisierung der subkulturellen Rebellionen.

 

Ein Geniestreich ist Sarasins Entscheidung, jedes seiner fünf Haupt-kapitel mit dem Nekrolog auf eine 1977 verstorbene Person anheben zu lassen, die sozusagen als Emblem eines thematischen Feldes fungiert. Welch schillernde Runde, man stelle sich ihre Tischgespräche im Jenseits vor! Ernst Bloch, der marxistische Philosoph der Utopie, dessen Hinschied für das Verblassen des Revolutionstraums steht; Fannie Lou Hamer, die schwarze Aktivistin, mit der Sarasin Feminismus und Renaissance der Menschenrechte verknüpft; die heute ziemlich vergessene Anaïs Nin, die den freien Sex, das intensive Leben und die Selbsterfahrung verkörpert, passend zu New-Age-Bewegung und Bhagwan-Kult; Jacques Prévert, der französische Poet – in diesem Kapitel geht es um Medialität, aber auch um Kunst, Musik, Digitalisierung und Stadtentwicklung; und schliesslich Ludwig Erhard, der angebliche „Vater des Wirtschaftswunders“ – unter dem Titel „Im Schatten der Natur“ zeigt Sarasin gekonnt auf, wie der Markt als „naturanaloges Ordnungsmodell“ angepriesen wurde und was die „Soziobiologie“ der siebziger Jahre mit ihrem Catchword des „egoistischen Gens“ (Richard Dawkins) zum neoliberalen Weltbild beitrug.

 

Die Stärke des Buches liegt mithin darin, dass Sarasin die Arbeit des Historikers nicht darauf beschränkt, Ereignisse zu protokollieren. Ihn interessiert der philosophisch reflektierende Blick, weniger im Sinne von Ideengeschichte denn vielmehr als beständiges Durchleuchten und Durchdenken des Lebens – eben als „Geschichte der Gegenwart“. Auch wenn der Foucault-Biograf und Autor eines Buches über Darwin und Foucault beteuert, dies sei für einmal kein Buch über Michel Foucault, taucht dieser glücklicherweise immer wieder auf. Darüber hinaus bezieht sich Sarasin aber auch auf andere Exponenten der heute so viel geschmähten französischen Philosophie (Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard) und der amerikanischen Soziologie (Richard Sennett).

 

Auf den ersten Blick erscheint es unnötig einengend, dass Sarasin in den fünf Hauptkapiteln nur voraussetzt, was bis Ende 1977 bekannt war, aber erstens lässt es sich der Autor nicht entgehen, mit dramatischer Ironie etwa Donald J. Trumps Immobilienmischeleien im New York der Jahre 1976/77 zu schildern – wir seufzen im Wissen, was daraus wurde –, und zweitens ermöglicht es gerade dieser Kniff Leser und Leserin, selber Fluchtlinien in unsere Gegenwart zu ziehen – etwa von der esoterischen Entdeckung der Innerlichkeit zur heutigen Ob-session mit Identität und Identitätspolitik, die Sarasin plausibel als phantasmatische Gemeinschaftsfiktion kritisiert.

 

Im Schlusskapitel, das man sich durchaus etwas ausführlicher gewünscht hätte, bezieht der Historiker sein kaleidoskopisches Jahresporträt dann sehr wohl auf unsere Gegenwart, würdigt den auf die siebziger Jahre zurückgehenden Zuwachs an Freiheit, Diversität und Inklusion, benennt aber auch das dunklere Erbe, sprich den Verlust gemeinsamer Räume und verbindlicher „Wahrheitsregeln“ in unserer postfaktischen, Verschwörungstheorien produzierenden Aufmerksamkeitsökonomie.

 

– Michael Pfister

 

 

 

Mai 2021

 

 

Beat Sterchi: Capricho - Ein Sommer in meinem Garten

(Diogenes, Zürich 2021)

Capricho

„Il faut cultiver son jardin“. So endet Voltaires Candide, und Beat Sterchis frisch aus fruchtbarem Boden gesprossenes Buch lässt sich als Exegese dieses berühmten Satzes lesen. „Der Ginster blühte.“ So beginnt Sterchis Capricho, und schon hat er uns am Wickel und entführt uns in sein spanisches Dorf in der Nähe von Valencia, in dem er sich 1984, nach seinem sehr erfolgreichen Roman Blösch über eine Kuh dieses Namens sowie einen spanischen Knecht in der Schweiz, ansiedelte. Und so nähern wir uns im zweiten Satz diesem zauberhaften Dorf: „Die terrassierten Hänge, durch welche die schmale, holprige Straße von Morella hinunter in mein Dorf führt, sahen aus wie mit Goldstaub überzogen.“ Das erinnert an eine weitere unsterbliche Zeile – aus Joni Mitchells Song „Woodstock“: „We are stardust, we are golden / and we’ve got to get ourselves / back to the garden.“

 

Da sind wir also, zurück im Garten, im huerto, mit Mandel-, Apfel- und Olivenbäumchen, Tomaten, Rosen und Zucchetti, und schauen dem Gärtner zu, wie er jätet, bewässert, düngt und Kartoffeln setzt. Wir schauen ihm auch dabei zu, wie er sich selber zuschaut und wie er, der eigentlich eine Geschichte dieses Dorfes schreiben will, aber damit nicht vom Fleck kommt, seine Notizen liest: „Gemäss meinen Notizen hatte ich dann bemerkt, dass der Kaffee wie geschmolzenes schwarzes Gold über den Schnabel der Kanne in die bereitgestellte weiße Tasse lief…“

 

Die etwas kuriosen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner lernen wir kennen: Aureliano mit seinem kleinen, braunen Köter; Eugenio, dem ein Herzschrittmacher eingepflanzt wurde; Joaquín und Marcos, die den Garten des Schweizers immer wieder kritisch inspizieren und ihm einschärfen, die Kartoffeln nicht vor Vollmond zu setzen; Nachbarin Pilar, die etwas Probleme mit der physischen Distanz hat und ihm von dem Fuchs erzählt, der ihm beim Hacken zugeschaut habe. Die Señora Inmaculada schliesslich meint, da er den Garten nicht wirklich brauche, sei dieser ein „capricho“ – eine Grille, eine Laune, nichts weiter. 80 „Caprichos“ in Aquatinta-Technik verfertigte Francisco de Goya in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts, eine moralistisch-satirische Revue der „condition humaine“. Auch Sterchis Buch ist manchmal ein wenig gesellschaftskritisch, etwa wenn er ans Meer fährt und sich über die «verschandelten Fischerdörfer», die „Einkaufsmenschen“ und über die „Einöde der Opportunisten“ ärgert. Aber so schlecht gelaunt ist er nur fern von seinem Dorf. Wenn er in seinen Garten zurückkehrt, atmet er auf. Und wir mit ihm, denn nach all den Greueln und Tragödien, den Sadismen und Intrigen, von denen wir in der Weltliteratur schon gelesen haben, ist dieses poetische Kleinod von einem Buch auf radikale Weise unspektakulär. Fast nichts passiert, und doch lesen wir es atemlos. Und merken, wie schrecklich wir auf Unheil konditioniert sind, denn wenn in einem Kapiteltitel plötzlich von einem „Feuer“ die Rede ist, zucken wir zusammen und rechnen mit dem Schlimmsten – dabei ist es nur das Grillfeuer, das er mit seiner Tochter entzündet, als sie ihn besucht. Ein bisschen später heisst ein Kapitel „Der Überfall“, und wir denken an grimmige Räuber aus den Bergen. Es sind aber nur – immerhin! – Steinböcke, die den armen Garten schwer in Mitleidenschaft ziehen.

 

Doch das kann das Glück des schreibenden Gärtners nicht trüben. Der schaltet den Fernseher aus, schaut in den Himmel und notiert: „Darüber solltet ihr mal einen Film machen. Über das Rauschen der Stille in der Nacht.“
– Michael Pfister

 

 

C. F. Ramuz: Derborence

(Limmat, Zürich 2021, 3. Auflage)

Derborence

„In früherer Zeit zogen sie in grosser Zahl hinauf, nach Derborence [...] Bei diesen Dächern, die nicht weit voneinander lagen, wie kleine Bücher auf einem grünen Teppich, all diese grau gebundenen Deckel; bei den zwei, drei kleinen Bächen, die da und dort aufglänzten, wie wenn einer ein Schwert aufhebt; mit runden Tupfen, mit ovalen Tupfen, die sich rings bewegten, und die runden waren die Männer, die ovalen die Kühe. Als Derborence noch bewohnt war; bevor der Berg eingestürzt war. Doch jetzt eben ist er eingestürzt.“

 

Am 23. Juni 1749 stürzten die Diablerets auf Derborence. Dies war der gewaltigste Bergsturz, der sich bis anhin in der Schweiz ereignet hatte. Davon inspiriert schrieb C. F. Ramuz über Antoine Pont, einen jungen, frischverheirateten Mann, der den Bergsturz überlebt. Als er sich sieben Wochen später aus dem Geröll befreien kann und zurückkehrt, verängstigt er das Dorf. Die Leute fürchten sich davor, dass die Toten wiederkommen. Nur Therese, Antoines Frau, verweigert sich dieser Angst, lässt sich auf Antoine ein und versucht, ihn unter die Lebenden zurückzuholen.

 

Ramuz‘ Erzählung, die von Francis Reusser 1985 eindrücklich verfilmt worden ist, vibriert von den mystischen Geschichten, die die Leute von Derborence unter der Gewalt der Natur entstehen lassen. Sanft, brutal, unheimlich erwacht der Berg, er seufzt und lacht, während er die Bergleute zu ihrem Schicksal verurteilt, ihnen die Liebe nimmt, den Verstand oder die Existenzgrundlage.
– Artemisia Valisa

 

 

Henry James: Der Altar der Toten

(Ripperger & Kremers, Schlaflosreihe, Berlin 2021)

Der Altar der Toten

Dieser 1895 erschienenen Erzählung von Henry James, diesem Meister der psychologischen Raffinesse sowie erhabenen Konstruk-teur literarischer Denkgebäude, gelingt es – ähnlich seinem Roman „Die Drehung der Schraube“ (alternativ auch übersetzt als „Das Geheimnis von Bly“) – , gespenstisch anmutende Drehmomente der eigentlichen Geschichte so zu setzen, dass aus einer grundsätzlich einfachen Exposition eine das Leben überhöhende und damit die eigentliche Existenz per se aushebelnde Erfahrung resultiert, die nur in der Schwebe zwischen Schein und Sein, Wahn und Traum funktioniert und schliesslich in tatsächlicher Erfüllung kulminiert.

 

Konkret folgen wir unserem Protagonisten, Stransom mit Namen, in seiner Trauer um die ihm zu Lebzeiten nahestehenden Personen, denen er als die Toten, die sie jetzt sind, einen Altar errichtet, um ihrer so zu gedenken; zuerst ersteht dieser Altar nur vor seinem inneren Auge , nach Besuch einer Kirche in einem Aussenbezirk Londons dann auch in Tat und Wahrheit, indem er in einer dunklen Seitenapsis des Gottesgebäudes beginnt, sogenannte Ewige Kerzen für jeden einzelnen Toten zu entzünden und also seine Devotion zum Totenreich nach aussen sichtbar zu manifestieren. Nur einem seiner damals im Leben treuesten Gefährten, Acton Hague, versagt er diese Ehre – während der alternde Stransom selbst sich in Zukunft auf dem von ihm erschaffenen Altar, symbolisiert durch eine neu entfachte Kerze, in den Reigen der aus dem Leben Geschiedenen einreihen will…

 

Zur selben Zeit wird diese neu geschaffene Stätte der Einkehr auch von einer in Schwarz gekleideten Frau periodisch aufgesucht, die dem Stransom’schen Ansinnen des „Altars für alle Toten“ zuwiderläuft, indem sie ihn für sich nur einem einzigen Verstorbenen weiht, was im Verlaufe der Erzählung trotz neu entstehender, wenn auch fragiler Freundschaft zu einem schier unlösbaren Konflikt aller Beteiligten führt, der ganz eigentlich nur durch die Flamme dieses einen fehlenden Wachslichtes namens Katharsis gelöst werden kann.
– Sandro Schäppi

 

 

Judith Hermann: Daheim

(S. Fischer, Frankfurt a. M. 2021)

Daheim

Wir alle haben uns wahrscheinlich schon gefragt: Was wäre gewesen, wenn? Auch die Ich-Erzählerin aus Judith Hermanns jüngstem Roman „Daheim“ tut dies und blickt zurück auf einen Wendepunkt ihres Lebens. Als junger Frau bot sich ihr die Gelegenheit, als Assistentin eines Zauberkünstlers nach Singapur zu reisen. Sie hat es nicht getan, hat andere Reisen unternommen, ihren Mann kennengelernt und eine Tochter bekommen. Dreissig Jahre später steht sie wieder an einem Scheideweg: Nachdem die Tochter ausgezogen ist und nur noch ab und an kurze Nachrichten schreibt, verlässt auch sie ihr Daheim, ihren Mann. Mit der Erinnerung und dem Aufbruch beginnt der Roman.

 

Die Handlung ist schnell erzählt. Die Ich-Erzählerin zieht an die Küste im Norden Deutschlands, wo ihr Bruder lebt, in dessen Kneipe sie aushilft. Sie lässt sich in einem alten Haus ausserhalb des Dorfes nieder. Es liegt einsam, knarzt des Nachts und gibt unheimliche Geräusche von sich. Es ist das erste Mal in ihrem Leben, dass sie allein in einem Haus wohnt. Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin an und geht eine Beziehung mit deren Bruder, einem Schweinezüchter, ein, der eine Marderfalle in ihrem Haus installiert, um dem nächtlichen Spuk ein Ende zu setzen.

 

Viele Szenen sind Rückblenden oder Erinnerungen, handeln von Sehn-sucht und Aufbruch, vom Älterwerden, von Abschieden, von alten und neuen Freundschaften. Der Roman ist nicht auf einen Handlungsstrang ausgelegt. Die Ich-Erzählerin, die genaue Beobachterin, ist der Angel-punkt. Sie schildert präzis und berührend die Menschen in ihrer Umgebung, so dass kleine, eindringliche Porträts entstehen, die sich in ein Ganzes fügen: ein Mann, der Dinge und Erinnerungen sammelt; ein alter Bauer, der sich der Geburtstagsfeier seiner Frau mit einem (gespielten) Schlaganfall entzieht; ein junger indischer Arzt auf der Notfallstation, der sich mit Hingabe und grossem Respekt vor dem Alter um seinen Patienten kümmert.

 

Das Faszinierende an Judith Hermanns Prosa ist das Geheimnisvolle, das Unfertige. So bleibt vieles bis zuletzt ungeklärt.

 

„Ich habe mich auf das Leben verlassen“, sagt die Ich-Erzählerin gegen Ende des Buches. Vielleicht ist es gerade dieser Blick auf das Wesentliche im Leben, was diesen Roman so ergreifend macht.
– Sandra Valisa

 

 

März 2021

 

 

Don DeLillo: Die Stille

(Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, übersetzt von Frank Heibert)

Die Stille

„Die Stille“, ein kleiner, feiner Roman aus der Feder des US-Amerikaners Don DeLillo, handelt, wie der Titel vermuten lässt, vom Grundklang der postmodernen Apokalypse, wenn er als Folge des Verlustes aller Energieversorgung auf Erden mit einem unhörbaren und dennoch unüberhörbaren Knall die Sinfonie des Nichts einläutet. Dieses Nichts wird in diesem Falle getragen von einer winzigen Gruppe gegenseitig befreundeter Menschen, die sich in einem New Yorker Apartment am Super-Bowl-Sunday im Jahre 2022 einfinden und welche im Moment der Genese des Systemtodes durch Ausfall der globalen Elektrizität und also der von ihr betriebenen Technik unterschiedlicher nicht agieren könnten. Erklärungen werden gesucht, selbst ent- und wieder verworfen, Einstein’sche Formeln treffen auf sexuelle Anziehungskräfte, schwarze Bildschirme auf imaginierte Alternativrealitäten, zur Neige gehende Kerzen auf eine Weltdunkelheit und whiskyselige Apathie auf übersteigerten, moralbrechenden Aktionismus. Und trotz aller Unruhe und Unrast entwirft DeLillo diese Variation der Endzeit ohne grosse Szenenwechsel, ohne unnötigen Klamauk, aber dafür mit einigem Augenzwinkern in der fast schon physisch greifbaren Ernsthaftigkeit, um alle Deutungshoheit in Wahnwitz und eben „Stille“ versinken zu lassen, wenn das ungreifbare Grauen beginnt…
– Sandro Schäppi

 

 

Mary Maclane: Ich erwarte die Ankunft des Teufels

(Reclam, Stuttgart 2021, übersetzt von Ann Cotten)

Ankunft des Teufels

Sie ist ausgehungert – irrt durch die Ödnis von Montana, in der die Bergwerke die Natur ausgebeutet haben und nur noch Sand zurückbleibt, auf den sie ihre überheblichen kleinen Füsse setzen kann, und wartet.

 

Sie ist pathetisch und ein Biest. Wäre sie eines der sterblichen Tiere, so schreibt sie, dann wäre sie eine Mischung aus einem Schwein, einem Leoparden und einem Stinktier. In ihrer Welt steht alles still – sie hungert nach Liebe, danach, nicht allein zu sein, und in ihrem Wohnzimmer sitzt der Teufel und hört sich ihren Heiratsantrag an.

 

Mary MacLane ist neunzehn Jahre alt, als sie 1901 das Buch schreibt, welches sie aus ihrer Einsamkeit hinauskatapultieren und ihr ein Bohème-Leben in Chicago ermöglichen wird. Mit provozierender Offenheit erklärt sie sich darin zum Genie und versenkt sich in fiebrigen, egomanischen Liebesschwüren. Vielleicht spricht in ihr einfach das alleingelassene, theatralische Mädchen, das unreifer scheint, als ihre neunzehn Jahre erwarten lassen. Teils kann man nicht umhin, sie dafür zu verurteilen. Die Welt um Mary MacLane herum stand nicht still – während sie auf den Teufel wartete, fanden in ihrer Heimatstadt Butte blutige Kämpfe für Arbeiterrechte statt, die sich noch über Jahre hinziehen sollten. Für die Menschen dieser Stadt hat Mary gerade mal fünf Seiten übrig, sie sind Hintergrundfiguren. Mary ist eine verzogene junge Frau, und sie macht keinen Hehl daraus. Aber auf ihr lastet auch der Geist vergangener Jahrhunderte; Jahrhunderte, die Frauen dafür bestraften, weiblich zu sein, die ihnen versagten, den Ruhm zu suchen. Und mit unglaublicher Leichtigkeit fordert sie ihn und alles andere ein. Sie liegt nicht falsch. In ihr ist die Berechtigung, in Napoleon verliebt zu sein, den Mann-Teufel zu heiraten und ihre Anemonendame zu lieben. In ihr ist die Berechtigung, gegen die Einsamkeit und das Korsett anzuschreien, wie ein trotziges Kind durch den Schlamm zu staksen und die Welt zu verurteilen. Sie hat jedes Recht auf Pathos.

 

Das Tagebuch von Mary MacLane, das sie mit „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ betitelt, ist ein flirrender Text voller jugendlicher Träume, Todesfantasien und obsessiver Liebeserklärungen. Trotzdem scheint da mehr in dieser jungen Frau zu schlummern, die aus ihrer Einöde in die Welt hineinschreit. Nun lässt die Übersetzung von Ann Cotten Mary MacLane endlich auch im deutschen Sprachraum Fuss fassen: Ihre zwei weiteren Bücher „My Friend, Annabel Lee“ und „I, Mary MacLane: A Diary of Human Days“ werden in den nächsten Monaten auf Deutsch erscheinen; ersteres wird ab März unter dem Titel „Meine Freundin Annabel Lee“ erhältlich sein.
– Artemisia Valisa

 

 

Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen

(Hanser Berlin, 2021, übersetzt von Anke Caroline Burger)

Der Tod in ihren Händen

Über Roberto Bolaño sagte der österreichische Autor Clemens J. Setz einmal, seine Spezialität sei es, ganz alltägliche Szenen so zu schreiben, dass man beim Lesen Todesangst empfinde. Das kann auch Ottessa Moshfegh, in Boston geborene Tochter eines iranisch-jüdischen Violinisten und einer kroatischen Bratschistin, die vor der Khomeini-Revolution in die USA flüchteten. Ihr vierter Roman beginnt wie eine harmlose Schnitzeljagd. Eine ältere Dame namens Vesta Guhl ist nach dem Tod ihres Mannes, eines Professors für Epistemologie, in einen Weiler an der US-amerikanischen Ostküste gezogen, wo sie niemanden kennt. Auf einem Spaziergang mit ihrem Hund findet sie ein Blatt Papier auf dem Waldboden: „Sie hiess Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“

 

Die Notiz wird zur Keimzelle eines Romans im Roman. Vesta Guhl imaginiert das Schicksal einer aus Belarus stammenden jungen Tänzerin, die vom Teenager-Sohn ihrer Zimmervermieterin bedrängt wird. Die etwas verwirrte Witwe in ihrem abgelegenen Blockhaus phantasiert sich ein gruseliges Figurenkabinett zusammen und lässt es mit ihrer realen Umwelt, die ihr fremd bleibt, verschmelzen. Einen dämonenartigen Bösewicht mit dem sprechenden Namen „Ghod“ identifiziert sie mit dem örtlichen Sheriff, der sie ermahnt, als sie mit übersetzter Geschwindigkeit in die nahe Kleinstadt unterwegs ist.

 

So wird die erste Hälfte des Romans zu einer kleinen Poetik, zu einer Geschichte über die Geburt von Geschichten aus dem Geist der Einsamkeit und der Paranoia. Wir leiden mit der Ich-Erzählerin mit und fürchten uns mit ihr vor einer Bedrohung, die sie selber kreiert; wir bedauern sie für das verpfuschte Leben an der Seite ihres dominanten, zynischen Gatten, in das sie uns nach und nach einweiht. Indem sie sich Magdas Geschichte ausdenkt, formt sie sich ein Alter Ego, erschafft sich selbst neu, aber im Zeichen des Todes: „Was für eine seltsame Verantwortung das war, den Tod eines Menschen in Händen zu halten. Der Tod erschien mir fragil wie tausend Jahre altes, brüchiges Papier. Eine falsche Bewegung, und alles würde mir zwischen den Fingern zerfallen.“

 

Doch je länger wir lesen, desto unheimlicher wird uns die Gesellschaft der Ich-Erzählerin. Das ist die Raffinesse dieses Romans. Ein kalter Schauer rieselt uns über den Rücken, als hätten wir eine Untote umarmt. Denn wie schon in ihren ersten Romanen „McGlue“ und „Eileen“ erweist sich Ottessa Moshfegh als Virtuosin des unzuverlässigen Erzählens. Als wäre sie eine Partisanin von Maurice Blanchot („La littérature et le droit à la mort“), schreibt Moshfegh Literatur als Gespinst aus Geborenwerden und Sterben. Nicht zufällig heisst die Kleinstadt, in deren Nähe Vesta lebt, Bethsmane – eine Mischung aus Bethlehem und Gethsemane. In Gethsemane steht die Todesangstbasilika, und Todesangst ist das, was Vestas emsiges Wähnen und Dichten eigentlich an- und umtreibt. Als ihr Hund wegläuft, spitzt sich die Situation zu. Auf der Suche nach dem vierbeinigen Gefährten fällt sie bei Nachbarn in Ohnmacht und erhält von diesen einen Ratgeber über den Tod. Halluzinierend stolpert sie durch die Gegend, fürchtet sich vor den Sternen am Himmel und muss schliesslich – in einer erschütternden Schlusssequenz – feststellen, dass alle Gefahr von ihr selbst ausgeht. Von ihr, Vesta… von ihr, der Literatur, der Stimme der Fäulnis und des verwesenden Lebens.
– Michael Pfister

 

 

Dezember 2020

 

 

Leo Tuor: Die Wölfin / La Luffa

(Limmat Verlag, Zürich 2019)

Die Woelfin

Wenn der neunjährige Bub das eine Auge zuhält, sieht die Urgrossmutter im Bett wie ein Wolf mit Spitzenhaube aus. Der Bub denkt, dass seine Vorfahren in der Surselva von Wölfen abstammen. Mit dieser Erinnerung beginnt der meisterhafte Roman von Leo Tuor «Die Wölfin», der 2019 als zweisprachige Ausgabe im Limmatverlag erschienen ist. Der Autor verwebt darin Geschichten über vier Generationen zu einem einzigartigen Erinnerungsbuch voller Poesie und Kraft. Erzählt wird aus der Sicht eines Buben, der bei den Grosseltern und der Urgrossmutter in einem Bündner Bergdorf aufwächst. Der Vater hat sich das Leben genommen und die Mutter kann nicht für den Jungen sorgen. Es reihen sich Erinnerungen und Anekdoten einer Kindheit zwischen mächtigen Specksteinöfen und furchteinflössenden Heiligenbildern aneinander. Der Autor erzählt virtuos von Ahnen und Urahnen, von schrulligen Gestalten und sperrigen Autoritäten, vom Alltag in der Klosterschule und den ewigen Wintern in den schattigen Tälern. Auch wer des Romanischen nicht mächtig ist, schielt gern auf die Seiten im Original, um eine Vorstellung vom Klang des Textes in seiner Ursprungssprache zu gewinnen. Und wie der kleine Bub im Roman, der beim Grossvater immer wieder um eine Geschichte bettelt, will man das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
– Sandra Valisa

 

 

Stewart O’Nan: Letzte Nacht

(Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2009)

Letzte Nacht

Das „Red Lobster“, ein archetypisches Lokal US-amerikanischer Prägung und Teil einer Restaurantkette, öffnet ein letztes Mal seine Pforten, um danach für immer zu schliessen. Während eines trüben Dezembertages mit aufkommendem Sturm sowie starkem Schneefall finden sich die Angestellten für einen letzten Arbeitstag ein, in Folge dessen die aufkommenden Emotionen, die zwischen Abschied, Existenzangst, sanfter Melancholie und verletzter Hoffnung pendeln, das (zwischen)menschliche Gefüge aller Beteiligten ins Wanken geraten lassen, verbinden doch mal geheime und dennoch so offensichtliche, hie und da gespielte und doch meist wahre, nicht ganz ernst gemeinte und trotzdem irgendwie innige Begebenheiten all unsere Protagonisten seit Jahren des Zusammenarbeitens mit diesem einen speziellen Band, welches nur im geschäftlichen Alltag entstehen kann und nun unwiderruflich durch den Konkurs der Filiale durchtrennt wird.
Stewart O’Nan gelingt mit diesem kleinen Roman ein Kabinettstück amerikanischer Erzählkultur; unprätentiös, warmherzig, trotzdem durchzogen von unbestimmter, jedoch steter Traurigkeit, fängt er dieses Momentum von Auflösung ein, wenn das Leben seinen Tribut fordert und dennoch weitergehen muss.
– Sandro Schäppi

 

 

Lutz & Guggisberg: Vergleichende Komparatistik – Die imaginäre Bibliothek von Lutz & Guggisberg

(Edizioni Periferia, Luzern 2020)

Vergleichende Komparatistik

Was steht denn da im Regal? „Mäuse im Mondlicht“ von Mortimer Malraux. Und gleich daneben? „Das erste Kanu“ von Roger Milla (wer erinnert sich noch an diesen kamerunischen Stürmer mit seinem Makossa-Tanz?) und Gotthold Baptist Schüler, „Die Ekstasen Echnatons“. Und da, das lang erwartete Standardwerk von Flugbert Stalder: „Das grosse Buch der Strunke, Knorze und Waldknochen“. Verstohlen möchten wir in „Schlecksteine“ von Lingam und Yoni Schuler blättern. Geht aber leider nicht, denn all diese Werke sind aus Sperrholz gesägt, mit aufgeklebten Inkjetprints auf dem Buchdeckel. In mehr als 20 Jahren haben die beiden Künstler Andres Lutz und Anders Guggisberg rund 500 solche Buchmodelle geschaffen, auf der ganzen Welt ausgestellt (aktuell und bis zum 10. Januar 2021 im Kunst Museum Winterthur, bald in der Galleria Periferia in Luzern) und in einem wunderbaren, dicken Band versammelt. Bücher müssen haptisch bleiben, auch in Zeiten der e-Manie. Gleichzeitig sind sie das Flüchtigste vom Flüchtigen. Ein verführerischer Titel, ein fabulöser Buchrückentext genügt, um unsere Phantasie auf intergalaktische Reisen zu schicken. Wie gern würden wir „Die 99 schönsten Taschenspielertricks der Renaissance“ erlernen! Und was für Abenteuer mag wohl „Die dicke Berta“, eine allerliebste belgische Riesenputenente, erleben? Lutz & Guggisberg erfinden AutorInnen, spielen aber auch mit wohlbekannten Namen: Roberto Bolaño schreibt einen Krimi mit dem Titel „Ulmensterben“, Alice Vollenweider lehrt uns „Kochen mit alten Meeresfrüchten“ (Diogenes, pardon: Biogemüs Verlag). Parodiert wird auch Schön- und Tiefgeistiges – wie etwa Sloterdijks „Sphären“-Trilogie mit Werken über „Wannen“, „Blöcke“ und „Haufen“: „Seit Anbeginn der Zeiten formt der Menschen Haufen. Der Polynesier der Traumzeit tat es mit der lüsternen Kaurimuschel.“ Oder die schiere Klanglust führt das Szepter, etwa bei „Gebrechliche Heilige“ von Haile Gebreselassie oder bei den „Rokokokokotten“, erschienen in der Onomato Presse. Dazu kommen wunderbare Buchrückentexte und Quotes wie das von Günter Grass über Albin Wickülers „Der Wettermacher“: „Dieses Buch ist wie ein Bad im tosenden Nektar fleischiger Lichtblumen!“ Und erst die Covers – ein Augenschmaus! Dass Lutz & Guggisberg nicht längst von Dutzenden von Verlagen als Umschlaggestalter unter Vertrag genommen worden sind, ist unbegreiflich (vielleicht sind sie es ja...). Dieses Buch der Bücher ist opulenter als das Füllhorn des gebenedeiten Schelmuffsky und verheissungsvoller als der Augenaufschlag einer Nixe aus dem Bambuswald von Sagano!
– Michael Pfister